Linksfraktionschef Gregor Gysi zum Urteil und dessen Konsequenzen
ND: Das Urteil wirkt auf mich wie ein Freibrief für die Bundesregierung, im außen- und sicherheitspolitischen Bereich nach Belieben zu verfahren, wenn immer sie sich auf Friedensbewahrung beruft. Ist das eine zu krasse Einschätzung?Gregor Gysi: Das ist zu krass, obwohl das Urteil enttäuschend ist. Das Bundesverfassungsgericht ist dabei geblieben, der Bundesregierung weitreichende Spielräume auf außenpolitischem Feld zuzubilligen. Aber die Richter haben das immerhin an die Bedingung der Friedenswahrung geknüpft. Sie haben festgestellt, dass es einen Bezug zu den Ländern der NATO geben muss und anderes mehr. Wichtiger ist mir, dass sie die Völkerrechtsverletzungen nicht bestritten, aber gesagt haben, für eine verfassungsrechtliche Prüfung kommt es nur darauf an, ob ein Einsatz insgesamt völkerrechtlich durchführbar ist.
Die Richter haben weiter erklärt, dass ISAF für sie völkerrechtsgemäß ist und dass sie nicht prüfen, ob Enduring Freedom es auch ist. Das heißt, sie haben absichtlich offen gelassen, dass OEF auch völkerrechtswidrig sein kann und sie haben entschieden, dass es keine Überschneidung zwischen beidem gibt. Das beruht auf einer Erklärung des Generalinspekteurs der Bundeswehr hier in der Verhandlung. Das heißt, wenn jetzt zum Beispiel durch Journalisten herauskommt, dass wir Recht haben, dass es Überschneidungen gibt, hat das Bundesverfassungsgericht gesagt, dass dann ein Verfassungsbruch vorliegen kann.
Die Köpfe qualmen jetzt bei der Bundesregierung und nicht bei uns, weil die sich überlegen muss, wie sie die Trennung von ISAF und OEF in der Realität hinbekommt. Denn darauf hat sich das Bundesverfassungsgericht gestützt.
Aber ist denn das eben nicht eine wirklichkeitsfremde Fiktion? Denn wenn der stellvertretende ISAF-Kommandeur gleichzeitig Kommandeur von Enduring Freedom ist und alle Informationen der Tornado-Luftaufklärung auf dem Tisch hat, können ja Bundeswehr oder ISAF überhaupt nicht entscheiden, ob und wie die USA das für welche Zwecke nutzen.
Genau das war einer unserer Einwände. Dazu hat der Generalinspekteur gesagt, dass der OEF-Kommandeur ganz woanders säße und ISAF allein entscheide. Davon ging das Bundesverfassungsgericht aus. Und nun wird es eine Aufgabe auch für Journalisten sein, zu prüfen, ob das stimmt. Wenn sich herausstellt, dass er die Fotos so kriegt und mitentscheidet, dann - so hat indirekt das Bundesverfassungsgericht gesagt - wird wohl ein Verfassungsverstoß vorliegen. Ich sage es noch mal, jetzt qualmen die Köpfe bei der Bundesregierung, nicht bei uns. Jetzt wissen sie durch das Urteil, dass sie die Realität so herstellen müssten. Ich weiß nicht, wie sie das hinkriegen wollen. Es kommt noch hinzu, dass Bundeswehrsoldaten - der KSK - bei Enduring Freedom mitwirken. Das Problem ist nur, dass wir da nicht die Klagefrist von sechs Monaten wahren konnten, weil wir nicht als Fraktion im Bundestag. Aber indirekt hat Karlsruhe gesagt, das kann völkerrechtswidrig sein. Wir werden den Bundestag damit neu beschäftigen
Zu weltweiten NATO-Einsätzen hat Richter Udo di Fabio bei der Urteilsbegründung gesagt, dies sei von Anfang an »mitgedacht« gewesen. Früher sei eben die Gefahr aus dem Osten gekommen, jetzt sei sie global. Er nannte es legitim, Krisenreaktionskräfte zur »Pazifizierung« potenzieller Aggressoren einzusetzen. Ist das nicht eine Billigung von »Präventivkriegen«?
Eigentlich nicht. Die Welt hat sich natürlich verändert, aber nicht zu ihrem Vorteil. Die Industriestaaten haben eine enorme militärische Überlegenheit, so dass jene, auf die sie Druck ausüben, mittels Terror reagieren. Also muss die westliche Welt lernen: Wenn sie aus dieser Spirale herauskommen will, kann sie nicht einfach die militärische Überlegenheit forcieren. Das führt zu schlimmerem, nicht zu weniger Terror.
Damit aber muss sich nicht das Bundesverfassungsgericht, sondern der Bundestag befassen. Wir müssen das Urteil nutzen, um die politische Debatte weiter zu treiben. Die Mehrheit der Bevölkerung ist ja dafür, dass die deutschen Soldaten aus Afghanistan abgezogen werden. Zum Glück.
Interview: Claus Dümde
Neues Deutschland, 4. Juli 2007