Der Programmentwurf, den die SPD auf ihrem Hamburger Parteitag verabschieden will, streichelt die sozialdemokratische Seele - hat aber mit der neoliberalen Regierungspolitik der SPD nichts zu tun. Es ist ein Rätsel, wie die Partei diesen Spagat aushalten soll. Ein Gastbeitrag von Gregor Gysi.
Mit Steuergeschenken für Konzerne, Vermögende und Bestverdienende und der Agenda 2010 und Hartz IV und dem damit verbundenen größten Abbau sozialer Leistungen in der Geschichte der Bundesrepublik, mit Deregulierung und Privatisierung vollzog die SPD in der Regierung von Gerhard Schröder eine neoliberale Wende. Sie entsozialdemokratisierte sich, was ihr sehr viele Mitglieder und auch Zustimmung bei den Bürgerinnen und Bürgern kostete.Die SPD-Führung stand somit bei der Erarbeitung eines neuen Programmentwurfs, der dem Hamburger Parteitag zur Abstimmung vorliegt, vor der Wahl, das Programm dem vollzogenen Paradigmenwechsel der Ära Schröder anzupassen. Das hätte den Vorteil von mehr politischer Glaubwürdigkeit und einer nur geringeren Kluft zwischen programmatischen Zielen und der Realpolitik gehabt. Die Nachteile wären jedoch in jeder Hinsicht größer gewesen. Mit der Union, der FDP und den Grünen sind drei weitere neoliberale Parteien im Deutschen Bundestag vertreten, die sich von der gewendeten SPD nicht mehr im Grundsatz, sondern nur in Nuancen unterscheiden. Die vier Parteien sind untereinander so ähnlich, dass es der demokratischen Kultur in der Gesellschaft schadet.
Ein Programm hat immer auch die Funktion der Identitätsstiftung. Das hat für traditionell linke Parteien immer eine ganz herausragende Bedeutung im Vergleich zu konservativen oder liberalen Parteien. So entschied sich die SPD-Führung, ihre in den letzten Jahren über Bord geworfenen Grundsätze sozialdemokratischer Politik wenigstens noch in ein Programm zu schreiben. Das tut der sozialdemokratischen Seele der Mitglieder an der Basis gut. Für den Sonntag also das sozialdemokratische Grundsatzprogramm, für den Alltag neoliberale Politik. Was die Pflege der sozialdemokratischen Seele betrifft, so unterscheidet sich der neue Programmentwurf kaum vom Berliner Parteiprogramm aus dem Jahre 1989. Danach hält die SPD nach wie vor an der Vision eines "Demokratischen Sozialismus" und der "sozialen Demokratie" fest. Das hielten die neoliberalen Vordenker in der SPD zwar für grundfalsch, aber sie konnten sich in dieser Frage nicht durchsetzen. Ansonsten liegen zwischen den programmatischen Zielen und der konkreten Politik seit der Ära Schröder Welten.
Die Regierung aus SPD und Grünen modelierte die "Deutschland AG" um
Eine der großen Aufgaben des 21. Jahrhunderts lautet, die Globalisierung nicht durch Kriege, sondern durch demokratische Politik zu gestalten. Deutlich kritisiert der SPD-Programmentwurf die "entfesselten Finanzmärkte", warnt vor den Gefahren einer ausschließlichen Orientierung an kurzfristigen und überzogenen Renditen. Deshalb seien "klare Regeln" erforderlich. Es war aber die Regierung aus SPD und Grünen, die die Besteuerung von Gewinnen aus Veräußerungserlösen abschaffte, um die "Deutschland AG" umzumodeln und sie den Kräften des Marktes zu überlassen. Tatsache ist auch, dass erst unter der Regierung Schröder die Hedge-Fonds zugelassen wurden und erst jetzt - unter dem Eindruck der Immobilienkrise in den USA - der Ruf nach mehr Transparenz laut wird.
Die SPD will die politische Union in Europa, sie will eine "Sozialunion" wie Die Linke, bleibt jedoch an diesem Punkt sehr vage. Sie lehnt ein Dumping bei der Senkung der Unternehmenssteuern ab. Nun war es wiederum die Regierung Schröder, die die Vorreiterin in der EU spielte und die Körperschaftssteuern in einem ersten Schritt von 45 auf 40, dann auf 25 und in der großen Koalition nun auf 15 Prozent senkte, was andere Regierungen wie in Großbritannien und Frankreich dazu zwingt, nun ihrerseits in den Steuersenkungswettlauf einzusteigen.
Interessant ist, was nicht auftaucht
Die SPD fordert in ihrem Grundsatzprogramm eine gerechte Besteuerung von Erbschaften und Vermögen. Nur zu! In der Regierung hat sie die Wiedererhebung der Vermögensteuer abgelehnt und nichts zur Erbschaftssteuer entschieden. Hinsichtlich der öffentlichen Daseinsvorsorge heißt es im Programmentwurf, dass Politik dafür sorgen müsse, dass "nicht zur bloßen Ware wird, was nicht zur Ware werden darf: Recht, Sicherheit, Bildung, Gesundheit, Kultur, natürliche Umwelt". Abgesehen davon, dass es die SPD war, die das Gesundheitswesen unter Renditeerwartungen stellte, und dass der Emissionshandel ein klassisches Marktinstrument wurde, ist interessant, welche Bereiche im Programm "nicht" auftauchen: der öffentliche Nah- und Fernverkehr, ein Grundbestand kommunalen Eigentums an Wohnungen, eine Kommunalisierung der Energieversorgungsunternehmen.
Bei den Sozialversicherungssystemen bekennt die SPD sich zum Prinzip der paritätischen Finanzierung der Beiträge von Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Es war aber die SPD in ihrer Regierungsverantwortung, die mit der Einführung der Riester-Rente und den erheblichen Zuzahlungen bei Arzneimitteln die so genannte "Eigenverantwortung" - ein Leitbegriff der Neoliberalen und auch der SPD-Führung - stärkte, einen Teil der Sozialversicherungsbeiträge auf die Arbeitnehmer abwälzte und damit die Parität teilweise aufgab. Der unter der Regierungsverantwortung der SPD erfolgte "Umbau" des Sozialstaates durch Hartz IV und durch massive Rentenkürzungen, nunmehr auch durch die Erhöhung des Renteneintrittsalters auf 67, findet seine programmatische Entsprechung in der Idee eines "vorsorgenden Sozialstaats".
In der Praxis werden soziale Leistungen massiv gekürzt
An dieser Stelle vollzieht sich der größte Bruch zu früherem sozialdemokratischen Denken und eine Adaption neoliberaler Philosophie, denn als das zentrale Element des "vorbeugenden Sozialstaats" wird die Bildung gesehen. Ein bestimmtes Maß an sozialer Gleichheit wird auf die Forderung nach mehr Bildung vom Krippenalter an verkürzt. Die SPD plädiert zwar vollkommen richtig für mehr Leistungsgerechtigkeit, größere Teilhabechancen und Chancengleichheit für alle Bürgerinnen und Bürger unterschiedlicher sozialer Herkunft. In der Praxis aber soziale Leistungen massiv zu kürzen und gleichzeitig die Konzerne und Vermögenden steuerlich zu entlasten, heißt, von der eigentlichen Verpflichtung des Sozialstaats zur Bedarfsgerechtigkeit und erst Recht zur gerechteren Verteilung des Wohlstands bleibt nur wenig übrig.
Das reformistische Projekt der" alten" Sozialdemokratie bestand bekanntlich darin, unter sozialer Gerechtigkeit mehr zu verstehen als die Reduzierung auf Chancengleichheit. Es ging der SPD immer um eine Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums zugunsten des Faktors Arbeit mit dem Ziel, die Gesamtnachfrage zu stützen und zu erweitern. Fragen der Umverteilung erfuhren daher immer eine starke Politisierung. Diese umfassendere Sicht von sozialer Gerechtigkeit und einem bestimmten Maß an sozialer Gleichheit, die nichts mit Gleichmacherei zu tun hat, spielt im neuen Entwurf des Grundsatzprogramms keine Rolle mehr.
Terror kann man nicht mit Krieg bekämpfen
Hinsichtlich der Außenpolitik bestehen auch auf der programmatischen Ebene die größten Unterschiede zwischen der SPD und den Linken. Im Programmentwurf lehnt die SPD "jede Form von Angriffs- und Präventivkriegen ab". Kein Wort darüber, das unter der Verantwortung der SPD die Beteiligung der Bundeswehr an dem völkerrechtswidrigen Krieg gegen Jugoslawien und an der völkerrechtswidrig gewordenen Operation "Enduring Freedom" in Afghanistan erfolgte. Auch hinsichtlich der Bekämpfung des internationalen Terrorismus heißt es, könne als "letzte Option" die Beteiligung der Bundeswehr vonnöten sein, falls Polizei, Justiz und Geheimdienste überfordert seien. Terror kann man aber nicht mit Krieg bekämpfen, der nicht nur zahlreiche unschuldige zivile Opfer fordert, sondern Hass, sät, der neue Terroristen hervorbringt.
Der Programmentwurf der SPD weist trotzdem weit mehr Gemeinsamkeiten mit der Programmatik der Linken auf als die konkrete Politik der "neuen" SPD in den vergangenen Jahren. Fragt sich nur, wie die SPD diesen Spagat programmatischer Ansprüche und ihrer neoliberalen Politik aushalten will. Für letztere steht die Linke als Partnerin nicht zur Verfügung. Wenn die SPD ihr Programm allerdings ernst nimmt und zur Richtschnur ihrer Politik machte, könnte es noch einmal herausfordernd, auch spannend werden.
Von Gregor Gysi
stern.de, 28. Oktober 2007