Dieser Artikel erschien am 19. September 2024 im nd.
Die Industrie in Deutschland steckt in der Krise. Hohe Energiekosten, zunehmende internationale Konkurrenz, geostrategische Verschiebungen und die Dekarnobisierung sind Herausforderungen für die Firmen und die Gesellschaft. Bei VW in Wolfsburg schrillen die Alarmglocken, und die Stahlarbeiter im Ruhrpott schlagen Alarm. 1500 Werktätige folgten diese Woche dem Ruf der IG Metall vor die Mercatorhalle in Duisburg, in der unter dem Motto »Gemeinsam für eine nachhaltige und klimaneutrale Stahlindustrie« der Stahlgipfel von Politik, Wirtschaft und Gewerkschaften stattfand. In der Branche sind bundesweit 80 000 Menschen beschäftigt, allein in Duisburg 13 500.
Seit Jahren steckt der nationale Branchenprimus, Thyssenkrupp Steel Europe, mit seinen 27 000 Beschäftigten in der Verlustzone und verhagelt das Konzernergebnis. Aufgrund kapitalistischer Kurzsichtigkeit steigt die Lust der Konzernchefs am Verkauf der Stahlsparte. Er wird aktuell vorbereitet, lediglich die »Konzern-Mitgift« ist in der Diskussion. Sollte diese nicht für notwendige Investitionen auskömmlich sein, befürchtet der Betriebsrat den Verlust von 10 000 Arbeitsplätzen. Die Zeichen stehen also auf Sturm.
Parallel verfolgt die Bundesregierung den Plan, die erheblichen Kohlendioxid-Emissionen der Stahlindustrie zu reduzieren. Denn sie umfassen ein Drittel des gesamten Ausstoßes der Industrie. Dieser Ansatz ist richtig, er muss nur konsequent umgesetzt werden und darf nicht im Ampel-Stückwerk enden.
Wichtige Grundstoffe wie Stahl oder Zement sollen künftig möglichst klimaneutral hergestellt werden. Im Mai 2024 stellte Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) seine Strategie vor, wie er dieses Ziel gemeinsam mit der Industrie erreichen will. Sogenannte »grüne Leitmärkte« sollen demmach die Nachfrage nach klimafreundlich produzierten Grundstoffen stärken. Ein grüner Leitmarkt ist ein staatlich geschaffener oder geförderter Markt für klimaneutral produzierte Grundstoffe wie »grünen Stahl«. Der Staat kann solche Materialien beispielsweise »in seiner eigenen Beschaffung bevorzugen.
Gewerkschaften und Industrie begrüßen diese Ideen. Thyssenkrupp Steel will in Duisburg grünen Stahl produzieren und dafür einen von vier Hochöfen durch eine sogenannte Direktreduktionsanlage ersetzen. Dafür wurden staatliche Gelder in Höhe von zwei Milliarden Euro in Aussicht gestellt. Wann und wie sie fließen, steht ebenso zur Diskussion wie die Frage, ob sie ausreichend sind. Allein diese Einzelinvestition verdeutlicht, wie gewaltig der nötige Mitteleinsatz für die Dekarbonisierung der Branche ist. Ohne staatliche Eingriffe würde derzeit folgerichtig kein Markt für den teuren «grünen Stahl» existieren.
Dabei ist die Stahlproduktion nicht nur Teil des Dekarbonisierungsproblems, sondern auch zentraler Bestandteil der Lösung. Ein Beispiel ist die Thyssenkrupp-Tochter Electrical Steel aus Gelsenkirchen. Hier produzieren 700 Beschäftigte in der strukturschwachen Region Spezialstahl, der zur Herstellung von Transformatoren verwendet wird. Die sind von entscheidender Bedeutung: Keine Energiewende ohne Trafos.
In Gelsenkirchen werden nun negative Auswirkungen einer Veränderung der Rohstahlerzeugung im Duisburger Mutterwerk auf die aktuell hoch profitable Produktion befürchtet. In der jüngeren Vergangenheit gab es zahlreiche Beispiele dafür, dass fehlende Unterstützung für vermeintlich defizitäre oder subventionsabhängige Industrien zur Abwanderung von Firmen führt, so in der Pharma- und der Solarbranche. Lieferengpässe und geostrategische Konjunkturen verdeutlichen die Schwäche einer solchen kurzsichtigen Industriepolitik: Auf einmal gibt es keinen Hustensaft mehr für unsere Kinder. Eine ähnliche Entwicklung darf es in der Stahlbranche nicht geben. Diese Schlüsselindustrie muss in Deutschland erhalten bleiben.
Gemeinsam mit der IG Metall steht Die Linke für die Sicherung von Tariflöhnen in der Branche ein. Diese müssen auch in Zukunft für den gesamten Industriestandort gesichert sein. Selbstverständlich muss die Transformation zur CO2-freien Stahlproduktion erfolgen. Da helfen Lippenbekenntnisse nur wenig. Vielmehr braucht es eine nachhaltige, staatliche Unterstützung. Dieses Engagement kann nur mit entsprechender Einflussnahme in der Eigentümerstruktur einhergehen, die im Sinne einer Wirtschaftsdemokratie den Beschäftigten mehr Mitbestimmung bei wirtschaftlichen Entscheidungen einräumt. Die Proteste in Duisburg waren ein Zeichen, weitere Arbeitskämpfe werden folgen. Die Nebenwirkungen der Transformation werden erst allmählich sichtbar, aber sie werden Folgen für den gesamten Industriestandort Deutschland haben.