Der Fraktionschef der Linkspartei, Gregor Gysi, spricht mit dem Tagesspiegel über Freiheit, Gleichheit - und Eitelkeit. Zudem warnt er vor Kältetoten in Deutschland, wenn die Konzerne künftig keine Sozialtarife anbieten.
Was bedeutet Freiheit für Sie, Herr Gysi?Wenn ich arm bin, kann ich mich nicht frei entscheiden. Und wenn ich, wie früher in der DDR, Geld habe, aber keine politischen Rechte, bin ich auch nicht frei. Das heißt: Für freie Entscheidungen braucht der Mensch immer die sozialen und die politischen Voraussetzungen.
Was nutzt einem Aidskranken in Afrika die Pressefreiheit, fragt Ihr Parteivorsitzender Oskar Lafontaine. Darf man materielle Versorgung gegen Freiheitsrechte ausspielen?
Natürlich hat ein Aidskranker nichts von der Pressefreiheit, wenn er nicht medizinisch versorgt wird. Und natürlich hat eine Sozialhilfeempfängerin nichts von ihrer politischen Freiheit, wenn sie sich keine Zeitung kaufen kann. Aber das ist kein Argument dafür, nicht auch für Presse- und Versammlungsfreiheit einzutreten. Ich will nicht fragen, was wichtiger ist. Das wäre gefährlich.
Aber in Ihrer Partei wird zwischen sozialen und politischen Menschenrechten unterschieden, als seien Menschenrechte teilbar.
Die Lehre aus der DDR und dem Scheitern des Staatssozialismus muss sein, dass es keine Alternative zwischen sozialen und politischen Menschenrechten geben darf. Ich will mich nicht auf die FDP-Logik einlassen, die mir erklärt, dass Freiheit immer voraussetzt, dass man sozial unsicher ist. Und ich akzeptiere nicht die DDR-Logik, wo mir erklärt worden ist, dass für soziale Sicherheit bestimmte Freiheiten eingeschränkt werden müssen.
Wenn es keine Freiheit ohne soziale Absicherung gibt, sind die USA dann ein freies Land?
Die USA produzieren eine solche Armut, dass viele Amerikaner ihre politischen Rechte nicht wahrnehmen können. Insofern ist ihre Freiheit stark eingeschränkt. Außerdem haben sie Guantanamo. Dort werden Menschen festgehalten, die weder Anspruch auf einen fairen Prozess nach amerikanischem Recht noch nach der Genfer Konvention haben. Das ist nicht hinnehmbar. Andererseits hat Amerika auch Freiheitsrechte, wie wir sie nicht kennen, etwa die inzwischen funktionierenden Antidiskriminierungsgesetze. Davon sind wir noch weit entfernt.
Lafontaine vergleicht den frei gewählten US-Präsidenten George W. Bush mit einem Terroristen. Halten Sie das für angemessen?
Ich würde es nicht so sagen, das ist nicht meine Art. Oskar spitzt halt gerne zu. Wenn Terrorismus eine rechtswidrige Anwendung von Gewalt aus politischen Gründen ist, dann ist diese Zuspitzung im Fall von Bush aber nicht falsch. Denn der Irak-Krieg war ein klarer Bruch des Völkerrechts.
Die Linke war drauf und dran, im Bundestag die Aufhebung des PKK-Verbots zu beantragen. Den Antrag mussten Sie dann allerdings zurückziehen, als eine PKK-Truppe drei deutsche Bergsteiger entführte. Kann es sein, dass Ihnen beim Thema Terrorismus die Maßstäbe abhanden kommen?
Die EU hatte die PKK von der Liste der terroristischen Vereinigungen gestrichen. Daraufhin wollten wir diesen Schritt auch gehen. Uns geht es vor allem darum, die Türken über die EU-Beitrittsverhandlungen zu einem Ausgleich mit den Kurden zu bewegen.
Ist der militärische Kampf der PKK ein legitimer Freiheitskampf?
Wer es in einer Demokratie nicht schafft, Mehrheiten zu organisieren, hat kein Recht zum gewaltsamen Widerstand. Wer aber diktatorisch unterdrückt wird, hat notfalls das Recht, sich auch bewaffnet zu wehren. Die Kurden wurden über Jahrzehnte stark unterdrückt. Geiselnahmen allerdings sind nie hinnehmbar und nur zu verurteilen. Deshalb haben wir den Antrag zurückgezogen.
Herr Gysi, ganz Europa jubelt über die Festnahme von Radovan Karadzic, nur von der Linken hört man nichts. Ist die Verhaftung eines mutmaßlichen Kriegsverbrechers kein Grund zur Freude?
Doch, selbstverständlich. Wir hatten nie Sympathien für Leute wie Karadzic. Mich stört aber, dass das UN-Kriegsverbrechertribunal nur für das frühere Jugoslawien in Den Haag zuständig ist.
Wieso? Das Tribunal wurde doch auf Beschluss der Vereinten Nationen geschaffen.
Das stimmt. Aber das weitere Abkommen für den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag haben zum Beispiel die USA nicht unterschrieben. Amerikanische Staatsbürger müssen sich dort also nicht für Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit verantworten. Es ist nicht akzeptabel, dass die politisch und militärisch stärksten Nationen bestimmen, wer vor Gericht kommt und wer nicht. Karadzic hätte sich für seine Verbrechen auch vor einem nationalen Gericht verantworten können, oder aber der Internationale Gerichtshof wird für alle zuständig.
Hätte die Nato 1999 nicht interveniert, wären den Serben-Führern noch mehr Menschen zum Opfer gefallen. Haben Sie im Nachhinein nie daran gezweifelt, dass die PDS den Einsatz so vehement abgelehnt hat?
Wer zur Verhinderung auch schrecklicher Dinge das Völkerrecht bricht, setzt wichtige Grundsätze außer Kraft. Und die Nato hat mit der Bombardierung Belgrads das Völkerrecht gebrochen.
Lieber einen Genozid geschehen lassen, als das Völkerrecht brechen?
Militärisches Eingreifen ist zur Selbstverteidigung gerechtfertigt oder zur Verteidigung eines Bündnispartners. Darüber hinaus ist nach der Charta der Vereinten Nationen eine Intervention möglich, wenn der Sicherheitsrat dies beschließt. Tut er es nicht, ist ein Militär-Einsatz völkerrechtswidrig. Verstöße wie der Nato-Einsatz im Jugoslawien-Krieg oder die US-Invasion im Irak ziehen weitere Verstöße nach sich. Letztlich wird so das internationale Recht ausgehebelt und durch das Recht - besser die Willkür - des Stärkeren ersetzt. Übrigens: Meist stecken ökonomische Interessen hinter Kriegen.
US-Präsidentschaftskandidat Barack Obama will mehr Soldaten nach Afghanistan schicken. Halten Sie ihn auch für einen Terroristen?
Natürlich nicht, aber die Aufstockung der Truppen wäre falsch. Der Kampf gegen Terrorismus kann militärisch nicht gelingen, weil Kriege neuen Terrorismus erzeugen. Immerhin will Obama aber die Soldaten aus dem Irak abziehen. Wenn er den Krieg beendete, wäre das ein großes Verdienst. Übrigens sieht man gleich, dass Obama ein ganz anderer Typ als George W. Bush ist. Er lächelt sympathisch, nicht hinterhältig. Seine Wahl zum US-Präsidenten wäre ein Jahrtausendereignis, das Amerika umkrempelte. Mich erinnert das an die Zeit, als Willy Brandt zum Bundeskanzler gewählt wurde. Georg Kiesinger gegen Willy Brandt, das war der Mann in der NSDAP gegen den Mann, der eine norwegische Uniform trug und gegen die Nazis kämpfte. Der Mann aus einer so genannten ordentlichen Familie gegen den Mann, der unehelich geboren wurde und noch mit falschem Namen antrat. Für die Bundesrepublik war das eine politisch-kulturelle Veränderung mit gravierenden Folgen.
Die Positionen Ihrer Partei in der Außenpolitik gelten als größtes Hindernis für ein Linksbündnis. Bereitet es Ihnen Sorgen, dass Sie ein rot-rotes Regierungsbündnis als aktiver Politiker vielleicht nicht erleben werden?
Ach, Quatsch. Ich bin 60. Mit dem Alter wird man gelassener. Im Übrigen ist die größte Hürde für ein Bündnis mit der SPD gar nicht die Außenpolitik. Die SPD ist im Moment für uns nicht koalitionsfähig, weil sie neoliberal ist. Und da werden wir uns nicht bewegen. Wenn wir auch für Hartz IV und die Rente ab 67 sind, werden wir als Partei überflüssig. Oder nehmen Sie die Verweigerungshaltung der SPD bei der Pendlerpauschale. Das ist doch nicht sozial.
Von der alten Pendlerpauschale haben Geringverdiener und Arbeitslose doch überhaupt nichts.
Wir kämpfen auch für die durchschnittlich Verdienenden. Und für diejenigen, die so wenig oder keine Steuern bezahlen, dass sie nichts absetzen können, fordern wir einen Ausgleich der Fahrtkosten. Angesichts der steigenden Energiepreise muss zusätzlich gehandelt werden. Zum Beispiel müssen wir die Energiekonzerne zwingen, Sozialtarife anzubieten, damit wir in Deutschland keine Kältetoten bekommen.
Das ist doch Panikmache.
Nein, diese Gefahr besteht tatsächlich. Die Gaspreise steigen um 18 Prozent. Und es gibt richtig arme Leute. Aber der Bundeskanzlerin scheint das gleichgültig zu sein. Es ist beschämend, dass sie nicht wusste, dass Hartz IV-Empfänger ihre Stromrechnung selbst bezahlen müssen. Das zeigt für mich, wie abgehoben viele Politiker sind. Wenn es keine Sozialtarife gibt, müssen wir den unteren Einkommensgruppen anders helfen. Dann müssen wir zumindest bei Hartz IV aufstocken und bei der Grundsicherung für Rentner.
Wann wird es das erste rot-rote Bündnis im Bund geben?
2009 ist ein Linksbündnis sehr unwahrscheinlich. Dafür müssten drei Voraussetzungen stimmen: Erstens müsste es rechnerisch klappen, das wissen wir heute noch nicht. Zweitens müssten SPD und Linke sich inhaltlich so nahe sein, dass Kompromisse möglich sind. Und drittens müsste es dafür eine gesellschaftliche Stimmung geben. Beides sehe ich nicht, zumindest noch nicht.
In Hessen wäre schon jetzt ein Linksbündnis möglich. Muss SPD-Landeschefin Andrea Ypsilanti sich schnell entscheiden?
Wir haben Zeit, aber die Abgeordneten von SPD, Linken und Grünen sollten mehr Gesetze beschließen, ihre Mehrheit unter Beweis stellen, möglichst oft und kräftig, damit da etwas wächst. Wir sind doch gewählt worden, um Politik zu machen.
Wäre die Wahl von Gesine Schwan zur Bundespräsidentin nicht ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu Rot-Rot-Grün?
Wir entscheiden darüber im September. Aber ich tendiere schon jetzt klar zu einem eigenen Kandidaten beziehungsweise einer eigenen Kandidatin. Damit wollen wir auf politische Inhalte aufmerksam machen.
Im dritten Wahlgang kann Schwan dann aber auf die Linke zählen?
Wenn Kurt Beck will, dass die Linke seine Kandidatin mitwählt, muss er mit uns darüber sprechen, oder wir müssten mit der zu wählenden Person weitgehend übereinstimmen. Auch da sage ich: Na ja.
Herr Gysi, Sie werden immer mehr zur Nummer zwei hinter Lafontaine. Macht Ihnen das zu schaffen?
(lacht) Ich stehe kurz vorm Selbstmord. Nein, im Ernst: Das stört mich gar nicht. Wenn Lafontaine 35 wäre und ich 30, wüsste ich auch nicht, ob das gut ginge - beide vom Ehrgeiz gepackt. Dass Oskar in der Öffentlichkeit im Vordergrund steht, damit kann ich gut leben. Ich habe mich nach meiner Erkrankung auch diesbezüglich verändert.
Wie?
Natürlich bin ich eitel wie alle Politiker. Entscheidend ist: Beherrsche ich meine Eitelkeit oder beherrscht sie mich? In meinem Leben gab es Phasen, in denen ich stark gefährdet war, mich von meiner Eitelkeit beherrschen zu lassen. Mitte der 90er wurde ich auch urlaubsunfähig. Ich konnte nicht mehr abschalten, habe ungeduldig auf das nächste Fax gewartet. Da habe ich mir gesagt: Gysi, Du hast schon einen Knall, es muss sich etwas ändern.
Das Gespräch führten Cordula Eubel, Stephan Haselberger und Rainer Woratschka.
(Erschienen im gedruckten Tagesspiegel vom 27.07.2008)