Von Sahra Wagenknecht, Erste stellvertretende Vorsitzende der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag
Herr Schäuble und Frau Merkel haben die Wahl. Wenn sie weiterhin so stur an der verhassten Troika und ihren Kürzungsdiktaten festhalten, treiben sie Griechenland in den Bankrott und aus dem Euro. Damit wären nicht nur Milliarden deutscher Steuergelder endgültig verbrannt, auch die Eurokrise würde wieder aufflammen. Der Zorn auf den Krisengewinnler Deutschland würde enorm zunehmen. Die Bundesregierung darf Südeuropa nicht länger zum Hinterhof degradieren, dem man eine zerstörerische Politik diktiert, ohne sich um die Situation der dortigen Bevölkerung und das Ergebnis demokratischer Wahlen einen Dreck zu scheren. Erst recht nicht, wenn man gleichzeitig von der dortigen Misere in Form von Kapitalzuflüssen, extrem niedrigen Zinsen sowie der massenhaften Zuwanderung gut ausgebildeter junger Leute profitiert.
Nicht die griechische Regierung ist radikal, sondern Frau Merkel und Herr Schäuble
Der griechische Finanzminister und die deutschen Gewerkschaften haben Recht: Europa braucht keine weiteren Spardiktate, sondern eine Art Marshallplan, der Investitionen und Wachstum fördert und die Schuldenlast auf ein tragfähiges Niveau reduziert. Erinnern wir uns: Statt die Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg für die Nazi-Verbrechen endlos bluten zu lassen, haben unsere Gläubiger seinerzeit einen Großteil der Schulden erlassen, die Zinsen gesenkt und den Tilgungszeitraum für ein Viertel der Kredite auf unbestimmte Zeit gestreckt, nämlich bis zur Vereinigung im Jahr 1990. Ein Land, das seinen Wohlstand nicht zuletzt der Gnade seiner Gläubiger verdankt, darf jetzt nicht so gnadenlos mit Schuldnerländern umspringen. Und gnadenlos ist es ohne Zweifel, wenn man der griechischen Regierung nicht einmal die nötige Atempause verschaffen will, um ein realistisches Reformprogramm zu entwickeln.
Nicht die griechische Regierung ist radikal, sondern Frau Merkel und Herr Schäuble, die auf völlig überzogen Forderungen beharren. Kein Land der Welt kann dauerhaft Haushaltsüberschüsse von vier oder gar acht Prozent der Wirtschaftsleistung für den Schuldendienst abzweigen – erst recht kein Land wie Griechenland, das aufgrund der brutalen Kürzungspolitik total verarmt ist. Warum hört Frau Merkel diesmal nicht auf Präsident Obama, dem sie doch sonst so hörig ist? Obama hat nämlich ausnahmsweise Recht: Man kann ein Land, das sich in einer Depression befindet nicht immer weiter ausquetschen. Nur wenn die griechische Wirtschaft auf die Beine kommt, können auch Kredite bedient werden, insofern ist es ein vernünftiger Vorschlag des griechischen Finanzministers, die Höhe des Schuldendienstes vom Wachstum der Wirtschaft abhängig zu machen.
Finanzpolitisches "waterboarding"
Griechenland war schon vor fünf Jahren zahlungsunfähig. Durch die Strukturanpassungsprogramme beziehungsweise das finanzpolitische "waterboarding" der Troika sind die Schulden noch drückender und die Fähigkeiten zur Rückzahlung noch geringer geworden. Statt die griechische Korruption zu bekämpfen und den Reichen höhere Steuern abzuverlangen, hat die Troika den griechischen Sozialstaat brutal abgerissen, Gewerkschaften entrechtet, Löhne gedrückt und ein Millionenheer an Arbeitslosen produziert. Viele Menschen haben nicht mehr genug Geld, um ihren Strom, ihre Wohnung oder Nahrungsmittel zu bezahlen. Zwei von zehn Griechen leben in Haushalten, in denen kein einziges Mitglied mehr ein eigenes Einkommen hat. Etwa 800.000 Menschen haben keine Krankenversicherung mehr, die Säuglingssterblichkeit und die Suizidrate haben sich fast verdoppelt. Wer von Griechenland die Fortsetzung dieser katastrophalen Politik verlangt, hat keinen Verstand und kein Gewissen.
Statt für ein europäisches Problem eine europäische Lösung zu finden, hat die Bundesregierung Unfrieden in Europa gestiftet, indem das Risiko einer griechischen Staatspleite von Banken und Hedgefonds auf die Steuerzahler übergewälzt wurde. Wie zynisch muss es in griechischen Ohren klingen, wenn Frau Merkel ein Rettungsprogramm für deutsche, französische und andere Banken und Hedgefonds als europäische "Solidarität" und "Hilfe für Griechenland" verkauft, obwohl dasselbe Programm dort eine humanitäre Katastrophe herbeigeführt hat? Muss man sich da wundern, wenn umgekehrt die Forderung aufkommt, Deutschland möge wenigstens für einen Bruchteil der von den Nazis angerichteten Verwüstungen und Plünderungen eine Entschädigung zahlen? Zumal diese Forderungen alles andere als unberechtigt sind.
Ganz Europa braucht einen New Deal
Europa braucht keine weiteren Kürzungsdiktate, sondern ein öffentliches Investitionsprogramm im Umfang von mindestens 500 Milliarden Euro pro Jahr. Die Europäische Zentralbank sollte endlich die nötigen Mittel für ein solches Aufbauprogramm bereitstellen statt wie geplant eine Billion Euro in die Finanzmärkte zu pumpen und damit wieder nur die Reichsten zu mästen. Vor allem muss die Europäische Zentralbank endlich das Urteil des Europäischen Gerichtshofs respektieren, ihre Erpressungspolitik beenden und der griechischen Regierung die nötige Zeit geben, damit über einen Ausweg aus der europäischen Schuldenkrise verhandelt werden kann.
Nicht nur Griechenland, ganz Europa braucht einen New Deal. Statt weiteres Geld der Steuerzahler zu versenken, sollten die EU-Staaten lieber über eine Neuordnung der alten Schulden verhandeln. Die Bankenrettungspolitik hat die Reichen noch reicher gemacht, nun ist es an der Zeit, dass die Millionäre und Milliardäre ihren Beitrag zur Überwindung der Krise leisten. In ganz Europa sollte eine Vermögensabgabe für Millionäre eingeführt werden, die genutzt wird, um den öffentlichen Schuldenstand auf ein tragfähiges Niveau abzusenken. Ferner sollten Mindeststeuern auf Unternehmensgewinne und Vermögenseinkommen eingeführt sowie Steuerhinterziehung und Korruption entschieden bekämpft werden. Europa braucht aber auch einen neuen Asylkompromiss: Es kann nicht sein, dass die Mittelmeerstaaten mit dem wachsenden Flüchtlingsproblem allein gelassen werden, während sich Deutschland mit einer unsozialen Drittstaatenregelung vor den Folgen seiner Politik abschottet.
linksfraktion.de, 5. Februar 2015