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»Gigantisches Rentenkürzungsprogramm«

Archiv Linksfraktion - Interview der Woche von Matthias W. Birkwald,

Die Große Koalition hatte 2007 beschlossen, ab 2012 schrittweise die „Rente erst ab 67“ einzuführen. Wer früher als mit 67 Jahren in Rente gehen will, muss dann schmerzliche Abzüge von seiner monatlichen Rente in Kauf nehmen. 2010 sollte aber überprüft werden, ob es gemessen an den arbeitsmarktpolitischen Realitäten tatsächlich sinnvoll ist, das Renteneintrittsalter anzuheben. Im Interview der Woche äußert sich zum Stand der Dinge Matthias W. Birkwald, rentenpolitischer Sprecher der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag.

Matthias W. Birkwald, wie viele Menschen werden eigentlich noch regulär mit 65 Jahren aus ihrem Betrieb in den Ruhestand verabschiedet?

Matthias W. Birkwald: Das sind nicht viele. In ihrer Antwort auf unsere Große Anfrage zur Beschäftigungssituation Älterer, ihrer wirtschaftlichen und sozialen Lage und die Rente erst ab 67 nennt uns die Bundesregierung unverblümt die mageren Zahlen: Nur 9,4 Prozent aller 64Jährigen sind sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Heute gehen die Menschen durchschnittlich mit 62,3 Jahren in Altersrente. Die überwiegende Mehrheit, mehr als 60 Prozent, scheidet vor dem 65. Lebensjahr aus dem Berufsleben aus. Knapp 36 Prozent gehen mit 65 in den Ruhestand, oft nach Arbeitslosigkeit oder Krankheit, und nur ein Prozent geht nach dem 65. Lebensjahr in Rente. So sieht die Wirklichkeit aus.

Ist es dann nicht eine Luftnummer, Menschen noch später in Rente gehen zu lassen, wenn ohnehin kaum mehr jemand über 60 regulär sozialversicherungspflichtig beschäftigt ist?

Es ist ganz und gar keine Luftnummer, sondern ein gigantisches Rentenkürzungsprogramm. Dazu müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass der Anteil der Menschen, die vor ihrer Rente in einem sozialversicherungspflichtigen Job waren, im Zeitraum von 1998 bis 2008 von 29 Prozent auf 18 Prozent gesunken ist. Das ist eine dramatische Entwicklung. Sie hat dazu geführt, dass heute die Hälfte aller neuen Rentnerinnen und Rentner so genannte Abschläge, also Rentenkürzungen, hinnehmen muss. Und zwar durchschnittlich 115 Euro, jeden Monat, ein Leben lang. 1998 waren dagegen nur knapp mehr als ein Prozent von Abschlägen betroffen. Und die Abschläge waren längst nicht so hoch, nämlich „nur“ 49 Euro pro Monat.

Irgendetwas muss es aber doch auch den Beschäftigten bringen. Die Regierungskoalition weist zum Beispiel darauf hin, dass bei der Rente erst ab 67 die Beitragssätze stabil bleiben könnten. Da hätten die Menschen doch wenigstens jetzt ein bisschen mehr in der Tasche, oder?

Mit der Rente erst ab 67 will die Bundesregierung dafür sorgen, dass die Beiträge zur Rentenversicherung bis 2030 insgesamt um 0,5 Prozentpunkte geringer ausfallen. Das sind 0,25 Prozentpunkte weniger Rentenbeitrag für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Wer durchschnittlich verdient, würde also nicht einmal sieben Euro weniger Rentenbeitrag zahlen und muss dafür zwei Jahre länger arbeiten. Das ist ein miserables Geschäft. Wir müssen die Betrachtungsweise ändern: Durchschnittsverdienende müssten sieben Euro mehr im Monat in die Rentenkasse einzahlen und schon wäre die Rente erst ab 67 überflüssig. Oder anders gerechnet: Bisher sind knapp neun Milliarden Euro Steuergelder vom Staat zu Gunsten der Versicherungswirtschaft in die private Alterssicherung à la Riester gesteckt worden. Das entspricht dem Anteil an Beitragseinnahmen, der für eine Absenkung des Rentenbeitrags um einen Prozentpunkt benötigt wird. Das sollte die Bundesregierung den Menschen sagen und dann ganz weit die Ohren aufsperren, was die Betroffenen dazu meinen.

Immer seltener haben Menschen heute eine unbefristete Festanstellung in Vollzeit. Was bedeutet ein höheres Renteneintrittsalter für Menschen, die nicht ihr ganzes Leben ununterbrochen in die Rentenversicherung einbezahlt haben - weil sie zum Beispiel arbeitslos waren oder nur in Minijobs gearbeitet haben?

Die Antwort ist so einfach wie die Folgen brutal: Abschläge, Abschläge und nochmals Abschläge. Auch ohne Abschläge wird das Rentenniveau sinken. Das ist die Folge einer vollkommen falschen Rentenpolitik der vergangenen zehn Jahre. Wenn wegen der Anhebung der Altersgrenze auf 67 immer mehr Rentnerinnen und Rentner Abschläge von ihrer Rente hinnehmen müssen, dann führt das zu einer neuen Welle von Altersarmut. Deswegen ist DIE LINKE ja auch ohne Wenn oder Aber gegen die Rente erst ab 67!

»Altersarmut ist weiblich«, heißt es schon jetzt. Träfe die »Rente erst ab 67« Frauen besonders hart?

Ja, eindeutig. Gerade mal sieben Prozent der 64-Jährigen Frauen waren 2008 sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Und in der oft zitierten Gruppe der 60 bis unter 65-Jährigen sind es weniger als zwanzig Prozent. Bei diesen Zahlen müssen wir aber stets beachten, dass Frauen deutlich häufiger als Männer Teilzeit und oft zu schlechteren Löhnen arbeiten. Deshalb fallen die Renten von Frauen so viel geringer aus als die von Männern. Frauen, die 2008 in eine Altersrente gingen, hatten im Schnitt nur 484 Euro Rente und damit knapp 400 Euro weniger als Männer. Das gilt selbst dann, wenn Frauen wie Männer zu den besonders langjährig Versicherten zählen, also 35 und mehr Jahre Beitragszeiten erreicht haben. Männer bringen es dann im Schnitt auf über 1000 Euro, Frauen erhalten knapp 460 Euro weniger.

Wenn wir uns in Europa umschauen, wo befinden wir uns da mit unserer Debatte um die „Rente erst ab 67“? Unsere Nachbarn in Frankreich diskutieren die Rente mit 62. Läuft bei denen etwas grundlegend anders?

In Europa verabschieden sich die Menschen durchschnittlich mit knapp 61,4 Jahren vom Arbeitsmarkt. In Frankreich sind es übrigens 59,3 Jahre. Trotzdem schwadroniert die EU-Kommission, dass wir in Europa künftig bis 70 arbeiten sollen. Das ist verrückt. In Frankreich werden die selben Argumente bemüht wie auch in Deutschland: Demografie und Finanzierbarkeit der Rente. Der Unterschied ist bisher: Die Menschen in Frankreich sitzen nicht wie das Kaninchen vor der Schlange und verfallen in eine Art argumentative Schockstarre. Im Gegenteil: Sie gehen zu Zehntausenden auf die Straße. Daran können und müssen wir uns ein Beispiel nehmen, wenn wir die Rente erst ab 67 ohne Wenn und Aber verhindern wollen.

Welches Modell schlagen Sie vor, damit Menschen am Ende ihres Arbeitslebens nicht in Armut fallen?

Ob die Rente auch bei steigender Lebenserwartung finanzierbar bleibt und das Rentenalter von 65 Jahren beibehalten werden kann, ist keineswegs allein eine Frage des demografischen Verhältnisses von Alt zu Jung. Viel wichtiger ist das Verhältnis von Beitragszahlerinnen und Beitragszahlern zu Rentenbezieherinnen und Rentenbeziehern, die Entwicklung der Produktivität sowie der Löhne und nicht zuletzt der sofortige Stopp der staatlichen Subventionierung der privaten Altersvorsorge.
Für DIE LINKE ist der Ausbau der gesetzlichen Rentenversicherung zu einer Erwerbstätigenversicherung ein wesentlicher Schritt in Richtung einer soliden und solidarischen Finanzierung der Alterssicherung. Ob nun bereits heute Versicherungspflichtige, Selbständige, Beamtinnen und Beamte, Ministerinnen und Minister und Abgeordnete - alle Erwerbstätigen sollen unter Wahrung des Bestandsschutzes zukünftig in die solidarische Erwerbstätigenversicherung einbezogen werden.

linksfraktion.de, 31.08.2010