Gesundheitsversorgung für alle - eine neue soziale Idee für die Gesundheit. Beschluss der Fraktion vom 10./11. September 2008 in München.
Für jeden Menschen müssen die medizinisch notwendigen Leistungen bereit stehen, um unabhängig von Alter, Geschlecht, Wohnort oder Einkommen Hilfe zu erhalten, Gesundheitsrisiken zu bekämpfen und Krankheiten zu heilen. Ziel sollte darüber hinaus gemäß der WHO-Definition von Gesundheit die Förderung körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und daher weit mehr als die bloße Abwesenheit von Krankheit sein.Um diese Leistungen anzubieten und dafür einkommensabhängig Beiträge einzuziehen, sind die Krankenkassen vor über 130 Jahren gegründet worden. Die Grundprinzipien der gesetzlichen Krankenversicherung - Solidarausgleich, Parität, Sachleistungsprinzip, Umlageverfahren, Kontrahierungszwang - gelten bis heute. Sie finden in der Bevölkerung breite Akzeptanz.
Seit Beginn der 1990er Jahre findet ein Paradigmenwechsel in der Gesundheitspolitik statt, unübersehbar hält die Kommerzialisierung Einzug. Aus einem Zweig der Sozialversicherung wird mehr und mehr ein Wirtschaftszweig, der dem Wettbewerbskalkül unterworfen ist. Die Verlierer dieses Wettbewerbs sind die Patientinnen und Patienten, die im ständig wachsenden Umfang Leistungen aus eigener Tasche finanzieren oder erhebliche Zuzahlungen und Praxisgebühren zahlen müssen. Die Zwei-Klassen-Medizin prägt sich aus; durch verdeckte Rationierung werden ihnen Verordnungen und Behandlungen vorenthalten.
Die flächendeckende Versorgung mit Praxen und Krankenhäusern weist immer mehr weiße Flecken auf. Der Arzt "um die Ecke" wird zur Ausnahme, das nächste Krankenhaus immer weiter entfernt. Die Länder kommen ihren Verpflichtungen nicht nach, ausreichend Mittel für die Modernisierung und Ausstattung der Krankenhäuser zur Verfügung zu stellen. Mittlerweile ist ein Investitionsstau von bis zu 50 Milliarden Euro aufgelaufen. Die Budgets sind so knapp bemessen, dass Tarifsteigerungen oder die Kosten für Energie nicht gegenfinanziert werden können. Zahlreiche Häuser stehen deshalb vor dem Aus oder werden privatisiert. Die Kommerzialisierung der Kliniken verlangt von den Beschäftigten eine Fließbandmentalität. Krankenhäuser versuchen im "Wettbewerb" immer mehr Behandlungsfälle pro Jahr durchzuschleusen. Es kommt vermehrt zu vorzeitigen, sogenannten „blutigen“ Entlassungen.
Die zurückliegenden Gesundheitsreformen haben die Strukturen unzureichend verbessert, die Qualität wurde nicht erhöht noch die Finanzierungsgrundlage gefestigt. Fixiert auf die Lohnnebenkosten dienten diese Reformen einzig dazu, den Beitrag der Arbeitgeber zu senken. Ansonsten fand eine Verschiebung der Kosten bzw. einer Reduzierung des Leistungskatalogs zu Lasten der Versicherten statt. Die Lasten wurden dadurch in zweifacher Hinsicht von den Arbeitgebern genommen: Die Kosten für den Zahnersatz wurden allein den Versicherten aufgebürdet. Dafür zahlen sie 0,9 Prozent mehr Beitrag als die Arbeitgeber. Und trotzdem müssen sie darüber hinaus kräftig zuzahlen. Mit der Ausdünnung des Leistungskatalogs wurden Milliardenkosten auf die Erkrankten abgewälzt. Fehlende Erstattung von Arzneimittelkosten, Zuzahlungen, Krankenhausgeld und Praxisgebühren sind Alltag im bundesdeutschen Gesundheitssystem.
Gegenwärtig tragen die gesetzlich Krankenversicherten mit ihren Beiträgen und Zuzahlungen einen Anteil von etwa 65 Prozent der gesamten Gesundheitskosten. Wo ehemals die Kosten für das Gesundheitswesen paritätisch, d.h. zu gleichen Teilen, von Arbeitgebern und Versicherten getragen wurden, haben die letzen Bundesregierungen die Unternehmerseite milliardenschwer entlastet.
Das GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz (GKV-WSG) der großen Koalition aus dem Jahr 2007 setzt diese Politik fort. Der angebliche Wettbewerb führt im Kern zur Entsolidarisierung und Privatisierung im Gesundheitswesen. Der Gesundheitsfonds mit möglichen Zusatzbeiträgen, die allein von den Versicherten zu tragen sind, und Wahltarifen wird die Solidargemeinschaft weiter spalten. Der Gesetzgeber hat mit seiner Unterdeckungsregelung von 95 Prozent der Kosten die Unterfinanzierung praktisch beschlossen. So wird es zwangsläufig zu Zusatzbeiträgen kommen.
Wer jung und gesund ist, kann sich mit "Teilkasko"-Wahltarifen Beiträge zurückerstatten lassen, während chronisch Kranke auf der teuren Vollkaskovariante sitzen bleiben. Die zunehmende Ausweitung der Gesetzesmäßigkeiten von Markt und Wettbewerb auf das Gesundheitswesen hat zur Folge, dass Patienten zu Kunden, Gesundheit zu einer Ware wird. Deshalb lehnt die Bundestagsfraktion DIE LINKE. diesen Gesundheitsfonds ab. Ein einheitlicher Beitragssatz, wie ihn der Gesundheitsfonds angeblich herstellen soll, kann nur in einer solidarischen Bürgerinnen- und Bürgerversicherung umgesetzt werden.
Die Bundesrepublik verfügt heute über ein Gesundheitswesen, in dem über vier Millionen Menschen beschäftigt sind und pro Jahr mehr als 250 Milliarden Euro umgesetzt werden. Trotzdem weist das System seit den 1980er Jahren zunehmend strukturelle, qualitative und verteilungsgerechte Mängel auf. Gesundheitsförderung und Prävention fristen weiter ein Schattendasein. Schließlich wird in der Bundesrepublik viel Geld mit der "Krankheit" verdient: Die Mittel werden folglich erst dann eingesetzt, wenn die Krankheit eingetreten ist, statt sie möglichst zu verhindern. Gesundheit ist jedoch eine zentrale Voraussetzung für die gesellschaftliche Teilhabe und Selbstbestimmung jedes Einzelnen, zu der der Ausbau von Gesundheitsförderung und Prävention einen wichtigen Beitrag leisten. Auch für gesundheitlich Beeinträchtigte muss Chancengleichheit gewährt werden.
Die Einnahmen der Kassen stagnieren: Durch Arbeitslosigkeit, Förderung des Niedriglohnsektors und fehlende Lohnzuwächse bleiben die Einnahmen trotz Beitragserhöhungen hinter den Ausgaben zurück. Durch die Beitragsbemessungsgrenze werden Besserverdienende geschont, denn jeder Euro, den sie derzeit über 3600 Euro im Monat verdienen, unterliegt nicht der Beitragsberechnung. Und oberhalb der Pflichtversicherungsgrenze können gut Verdienende wie auch bestimmte Berufsgruppen in die Private Krankenversicherung (PKV) abwandern.
Viel Geld versickert, weil die unzureichend aufeinander abgestimmte Versorgung oftmals den Patientinnen und Patienten schadet und darüber hinaus die Kosten in die Höhe treibt. Die einseitige Ausrichtung auf akutmedizinische Fälle vernachlässigt eine dringend notwendige Verbesserung der Versorgung von chronisch kranken Menschen.
Die aktuellen Entwicklungstendenzen im Gesundheitswesen müssen umgekehrt werden. Wir fordern ein soziales, gerechtes und solidarisches Gesundheitswesen. Die zukünftige Entwicklung des Gesundheitswesens muss sich am Bedarf der Bevölkerung orientieren und seine Strukturen und Leistungen dementsprechend aktiv umgestalten.
Deshalb fordert DIE LINKE für die soziale Ausrichtung des Gesundheitssystems:
Das Gesundheitssystem der Zukunft muss - entsprechend der WHO-Definition aus dem Jahr 1984 - ein präventives Gesundheitswesen sein. Das System der sozialen Sicherung darf nicht zu einem reinen Reparaturbetrieb verkommen, sondern muss das Gestalten selbstbestimmter Lebensführung ermöglichen. Die Gesundheitsförderung muss an der Spitze dieses umgestalteten Gesundheitswesens stehen.
Die Herausforderungen, vor denen die Gesetzliche Krankenversicherung durch die Alterung der Gesellschaft, der Dominanz chronischer Krankheiten und der sozialen Ungleichheit der Gesundheitschancen leistungsseitig wie auch finanzierungsseitig steht, kann nur mit einem Umschwenken von einer einnahmeorientierten Ausgabenpolitik hin zu einer aufgabenorientierten Ausgabenpolitik begegnet werden.
Die Aufgabenbestimmung ist der erste, die Finanzierung der zweite Schritt. Die derzeitige politische Debatte läuft umgekehrt und zeigt damit ihre Unzulänglichkeit. Wir stellen der lohnnebenkostenfixierten Rationierungspolitik der Bundesregierung unser Konzept einer solidarischen Bürgerinnen- und Bürgerversicherung entgegen. Nur so kann ein sozialer, gerechter und solidarischer Ausgleich erfolgen. Statt Wettbewerb, der zu Konfrontation an vielen Ecken führt, setzen wir auf Kooperation.
Das Gesundheitssystem ist dazu da, im Bedarfsfall frei von Diskriminierung und sozialer Ausgrenzung Versicherten in jeder Lebensphase alle notwendigen pflegerischen, medizinischen und therapeutischen Leistungen bereit zu stellen.
Grundpfeiler der Weiterentwicklung des bundesdeutschen Gesundheitssystems:
- Das Gesundheitswesen muss der flächendeckenden, wohnortnahen und bedarfsgerechten gesundheitlichen Versorgung seiner Bevölkerung dienen und mit seinen Leistungen allen Menschen unabhängig von ihrem Alter, Geschlecht und ihrer sozialen und finanziellen Situation zur Verfügung stehen.
- Soziale Ungleichheit ist einer der zentralen Gründe für den unterschiedlichen Gesundheitszustand der Bevölkerung. Gesundheitsförderung und Verhältnisprävention müssen eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe werden. Im Gesundheitswesen wird die Prävention zur eigenständigen, grundlegenden Säule ausgebaut, ein Präventionsgesetz wird geschaffen.
- Der Leistungskatalog der Krankenkassen wird wieder alle medizinisch notwendigen Leistungen aufnehmen. Alle Leistungen sind für die Patientinnen und Patienten zuzahlungsfrei. Praxisgebühren und andere Zuzahlungsregelungen der letzten Gesundheitsreformen werden rückgängig gemacht.
- Alle beteiligen sich entsprechend ihrer finanziellen Möglichkeiten unter Einbindung aller Einkommensarten an der Finanzierung des Gesundheitswesens (solidarische Bürgerinnen- und Bürgerversicherung). Die Trennung von Privater und Gesetzlicher Krankenversicherung wird aufgehoben. Perspektivisch können in der Bürgerversicherung Kassen zusammengeführt werden. Für die Beiträge aus abhängiger Beschäftigung wird die paritätische Finanzierung wiederhergestellt.
- Die Kriterien für den krankheitsbezogenen Risikostrukturausgleich zwischen den Kassen müssen umfassend definiert und zur Anwendung gebracht werden. Eine Einschränkung auf bestimmte Krankheiten wird im Ergebnis zu neuem Streit der Kassen um die guten Risiken, die jungen und gesunden Versicherten führen. Es muss überlegt werden, ob eine Zusammenführung der Krankenkassen zu einer einheitlichen Krankenkasse letztendlich nicht zielführender ist als der Versuch, durch einen krankheitsbezogenen Risikostrukturausgleich zwischen den Kassen die Unterschiede in der Versichertenstruktur auszugleichen.
- Zur Demokratisierung des Gesundheitswesens sind die Mitbestimmungs- und Entscheidungsrechte aller Akteure - also der Patientenvertreter, der Ärzteschaft, der Krankenhäuser, der Kassen, der Selbsthilfegruppen bzw. Patientenfürsprecher in den Gremien auszubauen. Auf der Grundlage einer regionalen Gesundheitsberichterstattung sollen in regionalen Gesundheitskonferenzen Gesundheitsziele vereinbart werden. Zur Umsetzung dieser Ziele wird ein eigenes Budget zur Verfügung gestellt. In diesem Kontext ist die Rolle des öffentlichen Gesundheitsdienstes neu zu diskutieren.
- Die kostenintensive Trennung von ambulanten und stationären Einrichtungen des Gesundheitswesens wird schrittweise überwunden. Die vorhandenen Ressourcen im Bereich der ambulanten Einrichtungen, der Krankenhäuser, der Rehabilitations- und Pflege-Einrichtungen werden bedarfsgerecht vernetzt.
- Zukunftsfähige öffentliche poliklinische Strukturen mit regionaler, integrativer Vernetzung werden ausgebaut sowie neue Berufsfelder wie Gemeindeschwestern (s. Projekt „Agnes“) im Interesse einer bedarfsgerechten Versorgung der Bevölkerung etabliert. Das Vordringen von Kapitalgesellschaften in den "ambulanten Gesundheitsmarkt" gilt es zu verhindern und umzukehren.
- Eine zukunftsfähige Krankenhausversorgung muss öffentlich organisiert und bedarfsgerecht finanziert sein. Für die flächendeckende stationäre Versorgung nehmen Länder und Kommunen weiterhin ihre Verantwortung für die bedarfsgerechte, investive Ausstattung der Krankenhäuser wahr. Die Krankenhausplanung bleibt in öffentlicher Hand. Die Investitionskosten der Krankenhäuser werden auch weiterhin von den Ländern getragen. Gleichzeitig ist eine Rekommunalisierung privatisierter Einrichtungen anzustreben.
- Zur Sicherung einer bedarfsgerechten, flächendeckenden und wohnortnahen gesundheitlichen Versorgung der Bevölkerung bedarf es einer zielgerichteten Nachwuchsgewinnung für alle Gesundheitsberufe. Berufe müssen an Attraktivität gewinnen, humane Aufgaben sind grundlegend aufzuwerten.
- Zur Eindämmung der Kosten im Bereich der Arzneimittelausgaben dient die Einführung einer Positivliste mit Festpreisbindung für Arzneimittel. Die Mehrwertsteuer für Arzneimittel ist auf den ermäßigten Satz von derzeit 7 Prozent zu reduzieren. Die Zulassung, Überwachung und Preisbildung von Arzneimitteln muss eine staatliche Aufgabe werden. Die Abgabe von Medikamenten sollte inhabergeführten Apotheken vorbehalten bleiben.