Der tausendfache Tod von Flüchtlingen im Mittelmeer hat in Europa die Debatte um sichere Fluchtwege, Zuwanderung, Schlepper und Fluchtursachen in den letzten Monaten bestimmt. Peter Schäfer, Leiter des Regionalbüros der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Tunis, berichtet im Interview aus nordafrikanischer Perspektive über die Sicht der Menschen in den Transitländern Tunesien, Libyen und Ägypten auf Migration, Menschenrechte, Europa und die eigene erdrückende Schuldenlast.
Peter Schäfer, Sie leiten das Regionalbüro Nordafrika der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Tunis. Sie stehen dort in engem Austausch mit Initiativen und politischen wie zivilgesellschaftlichen Akteuren. In welchem Zustand befindet sich die tunesische Gesellschaft heute, vier Jahre nach dem Arabischen Frühling?
Peter Schäfer: Die Gesellschaft genießt heute natürlich politische Freiheiten, von denen sie unter der Diktatur bis Anfang 2011 nur träumen konnte. Es fanden demokratische Wahlen statt und es gibt eine neue Verfassung. Und am wichtigsten: Konflikte wurden friedlich gelöst. Angesichts der Lage in vielen Ländern der Region ist das ein bemerkenswerter Punkt. Aber darüber hinaus hat sich für sehr viele Menschen nichts verbessert. Vor allem im Süden und im Landesinneren listen einem die Menschen die gestiegenen Lebenshaltungskosten auf. Das ist die Priorität und nicht, wer in Tunis gerade an der Macht ist.
Die Nachbarländer Libyen und Ägypten befinden sich immer noch in schweren politischen und gesellschaftlichen Turbulenzen. Beide sind in Europa als die Transitländer bekannt, über die die meisten der Flüchtlingsboote in See stechen, deren Insassen die Flucht nach Europa teuer bezahlen – das Ticket mit mehreren tausend Euro, die Flucht selbst oftmals mit dem Leben. Was passiert in diesen Gesellschaften, in denen die eigene Bevölkerung im politischen und wirtschaftlichen Chaos lebt und gleichzeitig Zwischenstation von so vielen Menschen ist, die nichts mehr zu verlieren haben als ihr Leben?Für die Flüchtlinge und MigrantInnen aus dem Süden dieser Länder stellen sich diese vor allem als rechtsloser Raum dar, den es so schnell wie möglich zu überwinden gilt. Bekannt sind ja die Erpressungen und Folterungen von Flüchtlingen im ägyptischen Sinai auf ihrem Weg nach Israel. Und dass sich in einem Bürgerkriegsland wie Libyen niemand um Flüchtlingsrechte kümmert, muss nicht verwundern. Da überrascht es nicht, dass viele Flüchtlinge, die über Libyen oder Ägypten auf dem Seeweg irregulär nach Europa kamen sagen, dass es eine Befreiung war, als sie endlich auf dem Boot waren.
Ansonsten ist Libyen ja mittlerweile auch für MigrantInnen aus Tunesien Transitland, weil das Aufbrechen von der tunesischen Küste aus schwerer wurde.
Europa hat mit den Regierungen in Nordafrika Vereinbarungen geschlossen, damit die ihre Seegrenzen schützen, Flüchtlinge also gar nicht erst in See stechen lassen. Wie werden diese Vereinbarungen in Nordafrika bewertet?Die Vereinbarungen selbst können gar nicht bewertet werden, weil deren Text in Gänze gar nicht öffentlich ist. Das ist beispielsweise ein großer Kritikpunkt der tunesischen Zivilgesellschaft, die hier ein Mitspracherecht fordert, an ihrer Regierung. Ansonsten wird natürlich klar gesehen, dass Europa nur diejenigen Menschen über seine Grenzen lässt, die wirtschaftlich genutzt werden können.
So können also nur die Auswirkungen der Vereinbarungen kritisiert werden. Es ist offensichtlich, dass Tunesien seine Möglichkeiten zum Abfangen von Flüchtlingsbooten ausgebaut hat. Es gibt eine Haftanstalt in Tunis, in der auch Flüchtlinge untergebracht werden, einschließlich Minderjähriger. Und es heißt, dass es zwölf weitere solcher Anstalten im ganzen Land gibt, deren Existenz die Regierung aber nicht bestätigt. Es gibt in Tunesien noch kein Gesetz, dass das Recht auf politisches Asyl schützt. Es ist also sicherlich nicht das, was in diesem Diskurs „sicheres Drittland“ genannt wird.
Wie erleben Sie, wie ihre Partner in Tunesien und den Nachbarländern von der anderen Seite des Mittelmeers aus die Fluchtbewegung nach Europa?Hier geht es ganz klar vorrangig um die Schaffung oder Gewährleistung von Rechten für MigrantInnen und Flüchtlinge. Es geht um Zugang zu Gesundheitsversorgung, Lebensmittel und Bildung für Minderjährige, die sich länger im Land aufhalten. Unsere Partner in Tunesien und Marokko kümmern sich um Datensammlung und Flüchtlingsberatung. Ein Problem ist sicherlich der Mangel an AnwältInnen, die zum Thema Flüchtlinge arbeiten. Wir bilden in Tunesien deshalb auch AnwältInnen aus.
Wichtig sind natürlich auch die Menschen, die aus Tunesien selbst übers Meer aufgebrochen und nie in Europa angekommen sind. Es sind im Wesentlichen die Mütter vermisster Flüchtlinge, die sich selbst organisiert haben und von der Regierung immer wieder Aufklärung fordern. Wir unterstützen diese Forderung über einen unserer Projektpartner, der eng mit den Müttern arbeitet. Im März wurde nun endlich eine Untersuchungskommission eingesetzt, in der Regierung und Zivilgesellschaft zusammenarbeiten wollen. Massengräber für MigrantInnen auf beiden Seiten des Mittelmeers müssen gehoben werden.
Ende April rollten Menschenrechtsaktivisten im EU-Parlament eine hundert Meter lange Liste mit den Namen von über 17.000 im Mittelmeer ertrunkenen Flüchtlingen aus. Die Parlamentarier waren gezwungen, über die Namen der Ertrunkenen zu laufen, um den Plenarsaal zu erreichen. Sind die Europaabgeordneten die richtigen Adressaten, um das Sterben an den Außengrenzen der EU zu stoppen?Es wäre wahrscheinlich effektiver, wenn die EU-Kommissare, die nationalen Regierungen und die Frontex-Führung über diese Listen zur Arbeit gehen müssten. Aber symbolische Aktionen beiseite: Ich fände es besser, wenn die europäischen Diskussionen um Migrationspolitik sich auf die Rolle europäischer Wirtschafts- und Handelspolitik, Waffenexporte und politische Unterstützung für undemokratische Regime konzentrieren würden. Die Schaffung sicherer Fluchtwege ist natürlich wichtig. Aber die Situation in Libyen und Ägypten haben wir ja schon gesprochen. Sicherer Fluchtweg hieße beispielsweise auch, dass Kapitäne von Flüchtlingsbooten nicht kriminalisiert werden, weil das nur dazu führt, dass die Menschen ohne Kapitän aufbrechen müssen. Aber es geht auch darum, dass die Gründe, die die Menschen zur Migration treiben, aufgelöst werden. Beispiel Tunesien: Der Schuldendienst des Landes im letzten Jahr betrug mehr als die Ausgaben für Bildungspolitik und Soziales zusammen. Es ist ganz klar, dass das Land unter dem Druck der Auslandsschulden auf keinen grünen Zweig kommt. Wenn man Tunesien wirklich helfen wollte, müssten dem Land die Schulden erlassen werden.
In Deutschland gibt es viele Menschen, die sagen, dass Investitionen in Entwicklungshilfe der beste Schutz vor dem Sterben auf der Flucht wären. Wenn die Bedingungen vor Ort bessere wären, würden auch nicht so viele Menschen ihre Heimat verlassen und nach Europa fliehen. Kann Entwicklungspolitik Flucht stoppen?In einer idealen Welt vielleicht schon, ja. Entwicklungshilfe für landwirtschaftliche Großprojekte in Äthiopien unter dem Schlagwort Ernährungssicherheit, die jedoch viele Kleinbauern in die Migration treibt und Abhängigkeit von ausländischen Maschinen und Saatgut fördern, beweisen, dass das Gegenteil richtig ist. Dasselbe gilt für sogenannte Stadtentwicklungsprojekte in Kairo, die die Armen vertreiben und geht bis zur Hilfe von Flüchtlingsprojekten in Nordafrika, die jedoch die Rückführung der MigrantInnen zum Ziel haben. Das alles geschieht mit europäischen Steuergeldern. Hier haben wir also eine Mitverantwortung, sind direkt involviert und sollten politisch ansetzen. „Entwicklungspolitisch“ würde ich diese Projekte jedenfalls nicht sehen. Es geht dabei eher um die Förderung europäischer Wirtschaften und um Grenzsicherung.
linksfraktion.de, 20. Mai 2015