Linkspartei-Politiker Gregor Gysi: Der Osten braucht eigene Wirtschaftskreisläufe und einen Beauftragten in der Regierung
Zwischen den beiden Teilen Deutschlands bestehe ein tiefer Graben, der sich noch verbreitern werde: Die Absenkung der Solidarpaktmittel ab 2009 werde wohl eine Katastrophe, sagt der Chef der Linkspartei-Bundestagsfraktion Gregor Gysi.Herr Gysi, alles spricht vom Aufschwung in Deutschland - aber am Osten geht er ziemlich vorbei. Woran liegt das?
Tatsächlich geht die Schere zwischen Ost und West auch im Aufschwung weiter auseinander. Das liegt daran, dass wir hier keine eigenen funktionierenden Wirtschaftskreisläufe haben. Die ehemalige DDR ist ja fast de-industrialisiert worden, von ein paar Ausnahmen abgesehen. Dabei werden im Osten alle neoliberalen Thesen widerlegt.
Wie das?
Wir haben hier geringere Löhne und längere Arbeitszeiten. Angeblich soll das ja wahnsinnig gegen Arbeitslosigkeit helfen. Aber es passiert nichts, sie ist und bleibt hier doppelt so hoch wie im Westen.
Was ist zu tun?
Wenn bis 2019 - dann läuft der Solidarpakt aus - der Osten auf die Beine kommen soll, brauchen wir einen Investitionsschub, müssen das Eigenkapital in den bestehenden Unternehmen vergrößern und verhindern, dass riesige Gebiete praktisch aufgegeben werden. Außerdem müsste man Ausschreibungsvorschriften der öffentlichen Hand so ändern, dass nicht automatisch das billigste Angebot zum Zuge kommt, auch wenn die Firma sonstwo sitzt. Die Kommunen brauchen mehr Spielräume, um eigene Wirtschaftskreisläufe mit heimischen Unternehmen in Gang zu setzen.
Schon ab 2009 sinken die Solidarpaktmittel für den Osten. Was passiert dann?
Das wird wohl eine Katastrophe.
Sie fordern die Beibehaltung?
Ja, denn die Degression wird die investiven Möglichkeiten der Länder noch weiter einschränken. Unter diesem Spardruck kann sich der Osten wirtschaftlich nicht selbsttragend entwickeln. Wir müssen schrittweise zu einer investiven Förderung kommen, damit eigene Wirtschaftskreisläufe entstehen. Dafür muss der Bund aber die Kosten der DDR-Rentensonderregelungen komplett übernehmen - bis jetzt will er das nur zu 40 Prozent. Dann könnten zum Beispiel Mecklenburg-Vorpommern die Gesundheitswirtschaft intensiver fördern und Berlin Wissenschaft und Wirtschaft offensiver zusammenbringen.
Halten Sie das für durchsetzbar?
Ich bin mir nicht sicher. Inzwischen wird im Westen ja sogar Wahlkampf gegen den Osten gemacht. Da wird ein Bild der Ostdeutschen gemalt, sie seien Nörgler, unzufrieden, teuer, ein Fass ohne Boden und wählen noch komisch, nämlich auch uns. Das funktioniert nur, weil wir 1990 einen Beitritt hatten und keine Vereinigung. Das prägt bis heute das Bewusstsein, und die Bundesregiering tut nichts, das zu ändern.
Sehen Sie den Aufbau Ost bei Minister Tiefensee in guten Händen?
Nein. Ich war immer für einen eigenen Ost-Beauftragten. Dieses nebenbei Erledigen, das führt zu nichts. Man muss da jemanden haben, der wirklich drängelt, der die Regierung und den Bundestag nervt mit seinem einzigen Auftrag: etwas voranzubringen im Osten.
Haben Sie sich von der Kanzlerin aus dem Osten da mehr versprochen?
Allerdings. Vor allem ein Konzept, einen Fahrplan zur Angleichung der Lebensverhältnisse. Aber da kommt bisher nichts.
Halten Sie das Ziel der gleichen Lebensverhältnisse überhaupt noch für realistisch?
Erstens steht das im Grundgesetz. Zweitens ist es auch dringend erforderlich. Es geht ja nicht darum, das zum 1. Januar 2007 zu erreichen. Und natürlich wird es auch immer Unterschiede geben. Aber der Abstand ist viel zu groß. Wenn heute zwei 18-Jährige als Sekretärinnen im öffentlichen Dienst in Thüringen und in Bayern anfangen, dann bekommen sie noch in 49 Jahren per Rentenbescheid mitgeteilt, dass die eine Ossi war und die andere Wessi, wegen ihrer unterschiedlichen Gehälter und damit Renten. Ich möchte wissen, wann das aufhört - bei den heute Sechsjährigen?
Aber eine Lohnangleichung würde die Arbeitslosigkeit im Osten doch noch verschärfen?
Das ist Quatsch, wie die vergangenen 16 Jahre zeigen. Deutschland kann sich eine solche abgehängte Region nicht leisten. Und außerdem: Hier wird gut gearbeitet, dafür soll es auch gutes Geld geben. Es muss wenigstens einen Prozess in diese Richtung geben. Die Schritte können ja klein sein, aber sie müssen kommen. Doch man merkt überhaupt keinen Willen diesbezüglich. Auch deshalb wandern die jungen Leute in den Westen ab.
Das Gespräch führte Holger Schmale.
Berliner Zeitung, 27. Dezember 2006