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100 Jahre Wahlrecht für Frauen

Ein Jahrhundert später – Zeit für Parité

Archiv Linksfraktion - Nachricht von Doris Achelwilm, Cornelia Möhring,

Am 19. Januar 1919 durften Frauen zum ersten Mal in Deutschland zu einer Wahl antreten und selbst wählen. Wenn wir daran heute erinnern, sollten wir zum einen nicht vergessen, dass hinter dieser Errungenschaft ein mindestens doppelt so langer Kampf steht. Zum anderen sollten wir diesen Jahrestag als Auftrag verstehen, uns nicht mit dem Bestehenden zufrieden zu geben. Denn von einer wirklichen politischen und gesellschaftlichen Gleichstellung sind wir noch weit entfernt.

Auch wenn Frauen formal gleiche Rechte besitzen, heißt das noch lange nicht, dass sie auch die gleichen Möglichkeiten haben, diese in Anspruch nehmen zu können. Der Politikbetrieb mit seiner Diskussionsund Arbeitskultur schließt Frauen immer noch aus oder verlangt ihnen zumindest einen deutlichen Mehraufwand ab, um als gleichberechtigte Politikerin auf Augenhöhe wahrgenommen zu werden, Männer fördern noch immer eher andere Männer.

DIE LINKE schränkt diese unsichtbare Männerquote mit einer sichtbaren Frauenquote ein und versucht damit zumindest ansatzweise, strukturelle Benachteiligungen von Frauen auszugleichen. Aber auch hier: Diese Quote ist kein Geschenk des Himmels, sondern Ergebnis von feministischer Arbeit.

Wir, DIE LINKE im Bundestag, wollen nun einen Schritt weiter gehen und alle Parteien verpflichten, quotierte Wahllisten aufzustellen. Von unseren Vorstellungen für ein Parité-Gesetz handelt diese kleine Broschüre. Und von den sozialen Schranken, die Frauen den Zugang zu politischer Partizipation immer noch erschweren, und die wir nur einreißen können, wenn wir unsere Gesellschaft ganz grundlegend verändern.

Doris Achelwilm, Sprecherin für Gleichstellungs-, Queer und Medienpolitik und Cornelia Möhring, stellvertretende Vorsitzende und Frauenpolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE im Bundestag

100 Jahre Frauenwahlrecht

Am 12. November 2018 jährte sich die Einführung des Frauenwahlrechts zum 100. Mal: Im Januar 1919 durften Frauen zum ersten Mal wählen und sich wählen lassen. Am 19. Februar 1919 eröffnete Marie Juchacz ihre Rede als erste Frau in der Weimarer Nationalversammlung:

»Meine Herren und Damen! Es ist das erste Mal, dass in Deutschland die Frau als freie und gleiche im Parlament zum Volke sprechen kann […] Was diese Regierung getan hat, das war eine Selbstverständlichkeit: Sie hat den Frauen gegeben, was ihnen bis dahin zu Unrecht vorenthalten worden ist.«

Das Wahlrecht war das Ergebnis eines harten und erbitterten Kampfes – auf der Straße und im Parlament.

Und es war das Ergebnis eines breiten Bündnisses von bürgerlichen Frauen bis Proletarierinnen und Sozialistinnen mit diversen Aktionsformen und unterschiedlichen Militanzgraden.

Ein Blick auf die aktuelle Zusammensetzung des Deutschen Bundestags zeigt, dass der Kampf um politische Gleichstellung und Partizipation noch lange nicht beendet ist. Gerade einmal 30,9 Prozent der Abgeordneten sind weiblich.

Das formale Recht, sich als Kandidatin aufstellen lassen zu können, reicht eben bei Weitem nicht. In gewisser Weise ist der erfolgreiche Kampf um den Zugang zur parlamentarischen Bühne ein Lehrstück über die Begrenztheit eben dieser: Denn solange nicht auch gesellschaftliche Bedingungen verbessert werden, wird sich auch an den parlamentarischen Verhältnissen wenig ändern.

Denn letztlich ist das parlamentarische Verhältnis Ausdruck der strukturellen Benachteiligung von Frauen: Vor allem die schlechtere Bezahlung von Frauen auf dem Erwerbsarbeitsmarkt und die geschlechtliche Arbeitsteilung, die Frauen noch immer den Großteil der unbezahlten Haus- und Sorgearbeiten zuweist, führen dazu, dass es Frauen oftmals sowohl an Die größte Gefahr für die Gleichstellung ist der Mythos, wir hätten sie schon. grete nestor finanziellen als auch zeitlichen Ressourcen mangelt. Alle, die politisch aktiv sind, wissen, wie notwendig insbesondere Zeit für politische Arbeit in Parteien und Institutionen ist.

Klasse und Geschlecht

Es sind also insbesondere Frauen mit geringem Einkommen und hoher Sorgeverantwortung für Andere, die ihr passives Wahlrecht am wenigsten realisieren können. Es sind Alleinerziehende, pflegende Angehörige, Frauen aus dem Niedriglohnsektor und viele andere marginalisierte Frauen, die am stärksten unter der herrschenden Politik leiden. Gerade sie wären für einen sozial gerechten gesellschaftlichen Wandel notwendig. Schon Clara Zetkin hat 1907 in ihrem Referat zur Frage des Frauenwahlrechts auf der Konferenz sozialistischer Frauen betont, dass das Wahlrecht eine unterschiedliche Bedeutung für Frauen entsprechend ihrer Klassenlage hat: »Für die Frauen hat das Wahlrecht praktisch eine ganz verschiedene Bedeutung je nach dem Besitz, über den sie verfügen, oder der Besitzlosigkeit, unter der sie leiden. Und zwar steht im allgemeinen der Wert des Stimmrechts für sie in umgekehrtem Verhältnis zur Größe ihres Besitzes.«

Die Kämpfe gegen Lohndiskriminierung und für höhere Löhne, genauso wie die um die Umverteilung von Sorgearbeit und Zeit durch bessere Kinderbetreuungsangebote und eine sozial gerechte Pflegeinfrastruktur, diese sozialen Kämpfe sind immer auch solche um gesellschaftliche Teilhabe und politische Partizipation.

Mehr Parität wagen!

Abgeordnete sind keine geschlechtslosen Wesen

Dass das Grundgesetz bei seinem Inkrafttreten1949 die Gleichberechtigung von Frauen und Männern überhaupt postulierte, wurde von den nur vier weiblichen Mitgliedern des Parlamentarischen Rates, angeführt von Elisabeth Selbert, gegen großen Widerstand erkämpft. Auch die Grundgesetzerweiterung um den Verfassungsauftrag der Gleichstellung vor einem Vierteljahrhundert mussten Frauen der männlichen Parlamentsmehrheit mühsam abringen. Und dass die Vergewaltigung in der Ehe nach jahrzehntelangen Auseinandersetzungen 1997 endlich unter Strafe gestellt wurde, ist einer maßgeblich von weiblichen Abgeordneten getragenen interfraktionellen Zusammenarbeit zu verdanken. Dass eine Vergewaltigung nicht erst dann juristisch anerkannt wird, wenn das Opfer mit allen Mitteln dagegen gekämpft hat, sondern Nein gleich Nein heißt, verdanken wir ebenso der inner- und außerparlamentarischen Zusammenarbeit von Frauen.

Noch anschaulicher ist der Einfluss von Frauen in der Kommunalpolitik: Erst mit genügend Frauen im Stadtoder Gemeinderat werden der ÖPNV ausgebaut, die Bürgersteige abgeflacht und mehr Betreuungsplätze für Kinder geschaffen – weil Frauen aus eigener Erfahrung wissen, wie notwendig diese Infrastrukturen für die Bewältigung des Alltags sind. Auch die Sitzungskultur ändert sich und wird tendenziell lösungsorientierter und die Sitzungszeiten familienfreundlicher.

Diese Beispiele veranschaulichen, welche Rolle das Geschlecht der Abgeordneten bei der Themensetzung und Entscheidungsfindung im Parlament spielt. Auch wenn theoretisch und rein juristisch betrachtet natürlich die Stimmen aller Wahlberechtigten das gleiche Gewicht haben und die Abgeordneten Vertreter*innen aller sein sollen: Sozialisation und Lebenserfahrungen von männlichen und weiblichen Abgeordneten unterscheiden sich und beeinflussen ihre politischen Perspektiven, Interessen und Prioritäten.

Parität stärkt die repräsentative Demokratie

Frauen sind in politischen Ämtern und Mandaten noch immer dramatisch unterrepräsentiert. Mit nur noch 30,9 Prozent ist der Anteil weiblicher Mandatsträgerinnen im 19. Deutschen Bundestag so niedrig wie zuletzt 1998. Die Unterrepräsentanz zu allen Zeiten und in allen Parlamenten in Deutschland ist nicht nur ein Problem für die so verhinderten Politikerinnen, sondern für Demokratie und Gesellschaft insgesamt, oder wie es Elisabeth Selbert ausdrückte: »Verfassungsbruch in Permanenz«. Denn seit 1994 verbietet das Grundgesetz nicht mehr nur eine Ungleichbehandlung aufgrund des Geschlechts, sondern verlangt mit Artikel 3 Absatz 2 Satz 2 GG die reale Verwirklichung der Gleichstellung. Damit erteilt das Grundgesetz dem Staat und seinen Organen den Verfassungsauftrag, die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern zu fördern und auf die Beseitigung bestehender Nachteile hinzuwirken.

Die Verantwortung der Parteien

Die Parteien haben eine demokratische Verantwortung. Wenn sich bei ihnen weniger Frauen engagieren, müssen alle Parteien die Gründe hierfür selbstkritisch untersuchen. Sie müssen geeignete Maßnahmen ergreifen, um mehr Frauen für eine aktive Mitarbeit auf allen Ebenen zu gewinnen. Hierzu können familienfreundliche Tagungszeiten und ein wertschätzender Umgang gehören. Unbedingt erforderlich ist es, bestehenden Sexismus in den eigenen Strukturen zu erkennen und zu verhindern.

Für ein Parité-Gesetz

Ein parteiübergreifendes Frauenbündnis in Frankreich aus den 1990ern dient uns als erfolgreiches Vorbild. Seit 2001 gilt dort das Parité-Gesetz, das den Frauenanteil auf unterschiedlichen Ebenen und außerdem noch die Wahlbeteiligung erhöht hat.

Eine Wahlrechtsreform ist immer eine demokratische Herausforderung. Wenn das Wahlgesetz in Deutschland geändert wird, um die Ausweitung des Bundestags zu begrenzen, geht das nicht, ohne gleichzeitig gesetzliche Maßnahmen zur Erhöhung des Frauenanteils zu treffen.

Hierfür haben wir zwei Ideen: Einmal müssen die Parteien verpflichtet werden, ihre Landeslisten für die Bundestagswahl abwechselnd mit Frauen und Männern zu besetzen. Menschen, die keine eindeutige weibliche oder männliche Identität haben, sollen an dieser Stelle selbst entscheiden, ob sie sich als Frau oder als Mann aufstellen lassen wollen.

Das genügt aber noch nicht. Denn gerade die stimmenstarke Union erzielt in der Regel so viele Direktmandate, dass die Landesliste oft kaum zum Zuge kommt.

Und in den Wahlkreisen werden in der Regel Männer als Direktkandidaten aufgestellt. Deswegen wollen wir die Wahlkreise auf 150 halbieren und jedem Wahlkreis zwei Direktmandate zukommen lassen, für eine Frau und für einen Mann.

Verfassungsrecht ist HERRschaftswissen

Auf den ersten Blick erscheint ein Parité-Gesetz, das den Wähler*innen vorschreibt, welches Geschlecht sie zu wählen haben, vielleicht undemokratisch, populistisch oder sogar komplett vermessen. Doch im Gegenteil gibt es längst internationale Verpflichtungen, den Frauenanteil in der Politik zu erhöhen. Geschlechterquoten bei Wahlen kommen heute in nahezu der Hälfte aller Länder der Welt zur Anwendung.

Anders als in Frankreich müssten wir für ein ParitéGesetz noch nicht einmal die Verfassung ändern, denn das deutsche Grundgesetz verlangt genau solche Maßnahmen vom Staat. Deshalb lohnt es sich, bei juristischen Gutachten, die ein Parité-Gesetz als verfassungswidrig einstufen, genauer hinzuschauen: In der Regel stammen sie von Männern, die dabei auf juristische Literatur von vor 1994 zurückgreifen. Doch zum Glück gibt es inzwischen auch Verfassungsrechtlerinnen, die alten Lesweisen überzeugend entgegenwirken.

Mit unseren Wegbereiterinnen von vor 100 Jahren als Vorbild werden wir nicht aufgeben, bis Geschlechtergerechtigkeit auch in den Parlamenten und allen anderen Orten der Macht Einzug gehalten hat.


Weitere Informationen zur feministischen Arbeit der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag:

Dossier linker Feminismus der Fraktion DIE LINKE | Facebook: Linker Feminismus