Gregor Gysi hatte drei Herzinfarkte und eine schwere Gehirnoperation, doch er kommt von der Politik nicht
los. Der Chef der Linksfraktion über Macht und die Kunst des Abschaltens.
Früher hätte er sich so einen Auftritt nicht entgehen lassen. In Bremen zogen die Linken am vergangenen Sonntag zum ersten Mal in einen West-Landtag ein, die Sozialisten waren im Fokus aller Kameras. Doch Gregor Gysi blieb in Berlin - und überließ selbst das Fernseh-Statement im Karl -Liebknecht-Haus dem Bundesgeschäftsführer. Seit einer Gehirnoperation versucht Gysi, seine Eitelkeit weniger gesundheitsschädlich auszuleben. In der ewigen Teilnehmerliste bei Sabine Christiansen ist er schon auf den sechsten Platz zurückgefallen. Geschadet hat ihm die Zurückhaltung am Sonntag nicht: Dank einer Berliner ARD-Kamera war er dann doch auf allen Kanälen.SZ: Herr Gysi, Sie haben drei Herzinfarkte und eine schwere Gehirnoperation hinter sich. Trotzdem sind Sie in die Politik zur ückgekehrt. Haben Sie keine Angst, für die Karriere die Gesundheit zu riskieren?
Gregor Gysi: Man muss versuchen, das Leben so zu organisieren, dass die Gefahr gering bleibt.
SZ: Ist das nicht eine Illusion?
Gysi: Menschen, die in erster Linie geistig t ätig sind, vernachlässigen eher ihren Körper. Das gilt auch für Politiker. Viele leiden an Stress. Auß erdem wird man freizeitunfähig. Wenn ich in den ersten Jahren Urlaub gemacht habe, kam ich trotzdem nicht zur Ruhe, konnte keine Bücher lesen. Stattdessen habe ich mich wie ausgehungert auf die Nachrichten gestürzt, die aus dem Büro kamen. Aber ich habe mich geändert.
SZ: Das klingt nicht sehr überzeugend.
Gysi: Stimmt aber! Früher habe ich aus zehn Problemen, die an mich herangetragen wurden, zwölf gemacht. Heute sind mir nur noch zwei davon wichtig. Früher konnte ich das nicht und neigte deshalb dazu, mich zu überfordern und zu verzetteln. Da nimmt der Tag kein Ende, nicht einmal, wenn man ins Bett geht. Das schwirrt dann noch alles weiter im Kopf rum. Ich habe durch meine Krankheit angefangen, vieles zu relativieren.
SZ: Was hat Ihnen die meiste Angst gemacht? Ein möglicher Verlust der Sprache - und damit das Ende Ihrer Karrieren als Anwalt und Politiker?
Gysi: Ich hatte ein Aneurysma im Gehirn neben der Stelle, an der das Sprachzentrum sitzt. Ohne das kannst du weder Anwalt noch Politiker sein. Aber es ist alles gutgegangen. Und jetzt lebe ich etwas anders. Ich habe mit dem Rauchen aufgehört, mache mehr Sport. Und ich verschleiße mich nicht mehr so. Wenn ich früher eine Veranstaltung in Dresden hatte, die bis 23 Uhr ging, bin ich anschließend noch zurück nach Berlin gefahren. Da kommt man dann nachts um zwei zu Hause an und hat morgens um neun schon den nächsten Termin. Das macht einen auf Dauer kaputt. Jetzt übernachte ich regelmäßig am Veranstaltungsort - und verzichte auf einige Termine.
SZ: Sie sind trotzdem noch Dauergast in den deutschen Talkshows!
Gysi: Wenn Sie wüssten, wie viele ich ablehne! Auf drei Anfragen sage ich zweimal nein. Fragen Sie nach. Talkshows sind auch f ür mich anstrengender geworden. Vor einer Sendung bin ich nervöser. Au ßerdem versaut einem so ein Besuch bei Christiansen doch den ganzen Sonntag. Das mache ich nur noch, wenn ich es f ür wichtig erachte. Ansonsten gehe ich lieber mal schnell zu n-tv oder N24.
SZ: Gieren Sie nicht trotz all dieser Bekundungen noch immer nach Aufmerksamkeit? Sie haben sich zweimal in Ihrem politischen Leben aus allen Ämtern verabschiedet und sind zweimal zurückgekommen. Können Sie außerhalb des Scheinwerferlichts nicht leben?
Gysi: Ach, das ist viel zu einfach. Natürlich freue ich mich über Wahrnehmung. Auch Politiker sind in sich widersprüchliche Personen. Ich habe nie bestritten, eitel zu sein. Eitelkeit ist an Politikern in der ersten Reihe kein Problem, sie ist eine Selbstverständlichkeit. Es gibt nur einen Unterschied: Beherrscht sie dich - oder beherrschst du sie. Wenn sie dich beherrscht, machst du große Fehler. Das sieht man auch bei Künstlern: Sie sind so lange gut, bis es sich dreht. Das ist in der Politik ganz genauso.
SZ: Selbst in Ihrer Partei sagen einige, mit dem Gregor ginge oft die Eitelkeit durch.
Gysi: Ach wissen Sie, ich mach’ nicht so viel Selbstanalyse, weil ich glaube, dass, wenn man eine individuelle Beziehung zu seinen zehn Zehen aufbaut, man wirklich eine Macke bekommt. Außerdem unterschätzen Sie meine politische Motivation! Sie unterschätzen, was es mir bedeutet, zusammen mit anderen aus der SED eine Partei geformt zu haben, die demokratisch erneuert immer noch lebt - und die jetzt auch im Westen Erfolg hat. Das zählt.
SZ: Dabei haben Sie Ihre Karriere doch eigentlich dem Scheitern von DDR und SED zu verdanken. In der früher ach so verhassten BRD konnten Sie Partei- und Fraktionschef, Berliner Bürgermeister und Wirtschaftsenator werden. Was wäre denn aus Ihnen geworden, wenn die DDR nicht untergegangen wäre?
Gysi: In der DDR hatte ich erreicht, was zu erreichen war. Ich war vom einfachen Mitglied zum Vorsitzenden des Berliner Rechtsanwaltskollegiums aufgestiegen. Dadurch wurde ich automatisch "Vorsitzender des Rates der Vorsitzenden der Rechtsanwaltskollegien der DDR". Mehr ging für einen Rechtsanwalt wie mich nicht.
SZ: Aber das wäre doch nicht das Ende gewesen, Sie waren 1989 erst 41Jahre alt.
Gysi: Als Ratsvorsitzender konnte man in den letzten DDR-Jahren schon ein bisschen Einfluss nehmen. Rechtsanwälte galten in der DDR über viele Jahrzehnte zwar nur als kleiner restlicher bürgerlicher Haufen, wir waren ja nur 600. Kein Einziger von uns saß in der Volkskammer. Wir waren zwar eine patente Truppe, hatten aber keinen politischen und kaum sonstigen Einfluss. Aber das änderte sich in den 80er Jahren gerade. Es gab eine Verrechtlichung des Lebens in der DDR. Dadurch bekamen auch wir Anwälte einen anderen Stellenwert. Ich denke, ich wäre in der DDR Rechtsanwalt geblieben und hätte versucht, Schritt für Schritt diese Rechtlichkeit und den Einfluss von Verteidigern zu erhöhen. Was ich mir nicht vorstellen kann - es sei denn, die Bedingungen hätten sich furchtbar verändert - ist, dass ich das Land verlassen hätte.
SZ: Haben Sie die Freiräume, die Gorbatschow in der Sowjetunion schuf, und die vielen Botschaftsflüchtlinge nicht fasziniert?
Gysi: Ich merkte 1989 schon, dass ich zunehmend politischer wurde, dass mir mein Beruf weniger gen ügte. Das war letztlich auch der Grund, warum ich dann im Herbst in die Politik ging. Ich musste mit Entsetzen feststellen, dass die SED-Führung zu Gorbatschow und den Flüchtlingen nur schweigt. Das Politbüro hat bis September 1989 kein einziges Mal über die Situation in den Botschaften in Ungarn und Prag gesprochen, das muss man sich mal vorstellen. Ich habe später mal ein ehemaliges Politbüro-Mitglied gefragt, warum das so war. Da sagte er zu mir, ich habe das auch nicht beantragt, weil ich keine Lösung hatte. Wenn man für ein Thema keine Lösung hatte, hat man es einfach totgeschwiegen. Grotesk.
SZ: Ende 1989 waren Sie auf einmal Vorsitzender dieser SED. Wäre es für den Anwalt Gysi nicht konsequenter gewesen, in einer der neuen Bürgerrechtsparteien aktiv zu werden?
Gysi: Es kam damals tatsächlich Bärbel Bohley zusammen mit einer anderen Bürgerrechtlerin zu mir, um mich für das Neue Forum zu werben. Denen habe ich gesagt, nee, das will ich nicht. Ich weiß zwar, wogegen ihr seid, aber nicht wofür. Die Mauer war dann auf und das Neue Forum endlich zugelassen. Da hatte ich das Gefühl, die brauchen mich nicht mehr. Stattdessen meinte ich, mich jetzt um die SED kümmern zu müssen, der ich seit 1967 angehörte. Ich dachte, jetzt könnte diesen Leuten Unrecht geschehen. Als ich 1990 in den Bundestag einzog, habe ich ja dann auch den Hass gespürt, der uns entgegenschlug.
SZ: Die SED hatte immerhin ein ganzes Land eingemauert.
Gysi: Das mag ja sein, aber das waren nicht wir PDS-Abgeordnete im Bundestag. Wir waren gleichberechtigte, vom Volk gewählte Abgeordnete für das ganze Land. Die behandelten uns aber wie Entsandte einer eigenartigen westpolnischen Partei mit der falschen Vergangenheit - und mich wie den letzten Botschafter der DDR. Außerdem versuchten sie uns mit den rechtsradikalen Republikanern gleichzusetzen und damit aus den Medien zu verdrängen. Das ist ihnen so nicht gelungen, obwohl sie es uns nicht einfach gemacht haben.
SZ: Ihre Karriere verlief trotzdem reibungslos, beinahe automatisch.
Gysi: Meine Karriere verlief wegen der Umstände anfangs tatsächlich automatisch. Für mich war es in der DDR doch so: Erst musste ich das Abi schaffen, dann das Studium, und dann Anwalt werden. Und mehr war nicht. Staatsanwalt und Richter schieden für mich aus, Notar war mir viel zu langweilig, da blieb nur Anwalt. Das war meine Nische. Und nach dem Ende der DDR rückte man als Anwalt oder Pfarrer wiederum fast automatisch auf, weil wir studierte Intellektuelle und trotzdem nicht so nah beim Staat waren. Alle anderen waren entweder zu stark verstrickt, oder sie kannten das Leben nicht, oder sie hatten die Ausbildung für die Aufgaben nicht.
SZ: Gerhard Schröder hat am Kanzleramt gerüttelt, auch Joschka Fischer oder Oskar Lafontaine haben ihre Karrieren mit groß em Einsatz verfolgt. Sie wurden dagegen eher von alleine SED- und PDS-Chef. Zum Berliner Bürgermeister oder Spitzenkandidaten 2005 musste man Sie sogar überreden. Warum verlaufen Karrieren so unterschiedlich?
Gysi: So etwas ergibt sich doch stark aus der Art des Lebens. Wenn ich in so armen Verhältnissen gestartet wäre wie Schröder, Lafontaine oder Fischer, ich weiß nicht, was aus mir geworden wäre. Entweder ich wäre ein Verbrecher geworden, oder ich hätte eben auch versucht, mit allen Mitteln erfolgreich zu sein, Karriere zu machen. Das muss man in so einer Situation ja auch. Denen war ja nichts gegeben. Da hatte ich eine viel glücklichere Ausgangsposition. Ich habe mir bei Schröder manchmal überlegt, warum ich als Sohn meiner Eltern sozialer eingestellt bin als er als Kind einer Putzfrau. Und dann war mir die Antwort klar: Da er alles geworden ist, ohne dass es viel Sozialleistungen gab, denkt er, das müssten die Armen heute auch können. Er hat ’s ja auch geschafft.
SZ: Ihre sozialpolitischen Ansichten sind also Ausdruck groß bürgerlicher Naivität?
Gysi: Ich will nur sagen: Bei mir kommt eine andere Überlegung dazu: Ich weiß nicht, was aus mir geworden wäre, wenn ich aus solchen Verhältnissen gekommen wäre wie Schröder. Das heißt: ich bin misstrauisch mir gegenüber. Also will ich jetzt dafür kämpfen, dass die Startbedingungen solcher Kinder wesentlich besser werden. Weil ich mir nicht vorstellen kann, dass ich mich sonst so entwickelt hätte, wie ich mich entwickelt habe. Die Herkunft ist kein Garant: Wer aus armen Verhältnissen kommt, muss keine besonders soziale Politik machen - und andersrum.
SZ: Sie hatten nach Ihrem Rücktritt als Berliner B ürgermeister Ihre politische Karriere beendet und waren als Anwalt tätig. Hat Sie das nicht ausgefüllt?
Gysi: Im Gegenteil! Wenn ich nachts von etwas träume, dann von meinen Fällen als Anwalt. Ich habe immer noch Mandate. Die Fälle beschäftigen mich mehr, weil ich da eine persönlichere Verantwortung habe.
SZ: Das gilt in der Politik aber doch auch, wenn man sich nicht nur auf eine schlichte Oppositionsrolle reduziert.
Gysi: Ja, aber ganz anders. In der Politik hast du eine persönliche Verantwortung fü r viele anonyme Schicksale, aber kaum f ür ein konkretes. Der Anwaltsberuf ist viel unmittelbarer. Das habe ich auch als Vertreter der Eltern der ermordeten Ulrike erlebt. Ich hatte dann festgestellt, dass mein eigentlicher Beruf Anwalt ist und ich auch in Zukunft keine politischen Ämter mehr brauche.
SZ: Warum sind Sie dann doch wieder in die Politik zur ück? An Ihrer Eitelkeit soll es ja nicht gelegen haben, sagen Sie.
Gysi: Wie gesagt: Sie unterschätzen meine politische Ernsthaftigkeit und Ausdauer. Ich habe eine Rückkehr lange abgelehnt, obwohl mich Lothar Bisky oft gebeten hat. Er hat mir immer erklärt, ich solle wieder kandidieren, weil davon abhänge, ob wir 4,8 oder 5,1Prozent der Stimmen erzielten. Das hat mich aber nicht überzeugt. Ich habe ihm immer gesagt: In vier Jahren und in acht Jahren wirst du mit demselben Argument wiederkommen. Das hat doch keinen Sinn.
SZ: Was hat Ihre Meinung dann doch geändert?
Gysi: Dann entstand die WASG, und Oskar Lafontaine verabschiedete sich von der SPD. Da kam Lothar wieder zu mir. Und ich sagte, jetzt brauchst du mich nicht mehr, jetzt seid ihr auch ohne mich sicher über fünf Prozent. Und dann sagte Lothar: "Mag sein, aber daf ür brauchen wir jetzt einen Partner für Lafontaine, der als halbwegs gleichwertig akzeptiert wird, und da gibt es nur dich. Wenn du das nicht machst, dann geht das Projekt schief." Dieses Argument hat mich - also doch etwas eitel - überzeugt. Ohne die WASG wäre ich nicht zurückgekehrt, obwohl Lothar wirklich hart an mir gearbeitet hat. Jetzt dabei mitzuhelfen, auch in Deutschland eine gesamtdeutsche Partei links von der SPD aus der Taufe zu heben, das finde ich eine spannende Herausforderung. Das hat mich wieder neugierig gemacht. 8,4Prozent in Bremen, damit hatte doch niemand gerechnet. Jetzt ist der Weg in weitere westdeutsche Landtage frei.
SZ: Das wäre doch ein schöner Anlass, sich ein drittes Mal aus der Politik zurückzuziehen?
Gysi: Jetzt hole ich mir erst mal bei der Bundestagswahl 2009 die Note für unsere Arbeit ab. Und dann schauen wir weiter. Eines kann ich Ihnen aber schon jetzt sagen. Ich bin nicht davon getrieben, in meiner Biographie auch mal Bundesminister gewesen zu sein. Und ich mache mir schon jetzt Gedanken, wie mein Alter wird. Denn eines ist sicher: Ich will keiner von denen werden, die immer den Bundesgeschäftsführer geben, weil ihnen sonst nichts einf ällt. Ich habe zu Hause eine elfjährige Tochter und eine Frau.
SZ: Herr Gysi, Sie kokettieren ja gerne damit, nur "einsvierundsechzigeinhalb" groß zu sein. Wäre Ihre Karriere anders verlaufen, wenn Sie ein groß er Mann wären?
Gysi: Sagen Sie lieber "lang" und "kurz" statt gro ß und klein! Weil ich kurz war, habe ich nie versucht, mich k örperlich auseinanderzusetzen, schon als Kind nicht. Ich habe es immer verbal versucht. Wenn man es aber immer verbal versucht, kann man das bald besser. Und wenn man es verbal gut kann, spielt man auch in einem Rechtsanwalts -Kollegium eine entsprechende Rolle. Das hat mir den Aufstieg vermutlich erleichtert. Wenn man lang ist, konzentriert man sich wahrscheinlich auf andere Sachen. Aber ich kann das nicht richtig beurteilen. Weil ich ja nie lang war.
Interview: Robert Roßmann
Süddeutsche Zeitung, 19. Mai 2007