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"Diese Bildung haut einem die Beine weg"

Archiv Linksfraktion - Im Wortlaut von Gregor Gysi,

Gregor Gysi über Thomas Mann, über seine Tante Doris Lessing und das Lesen in der DDR

In unserer Sommerserie befragen wir Politiker nach ihren Lieblingsbüchern. Heute spricht Norbert Wallet mit Gregor Gysi (Linkspartei).

Wallet: Herr Gysi, worüber reden wir?

Gysi: Über Thomas Manns "Zauberberg". Ein Jahrhundertbuch, die Beschreibung einer ganzen Welt.

Wallet: Einer Welt als Pflegefall und Sanatorium - dem Untergang geweiht.

Gysi: Es ist so ein Werk, bei dem man einfach staunt, was ein Autor in seinem Kopf zu Stande bringt. Die geistige Verarbeitung einer Zeit - das hat etwas Einzigartiges.

Wallet: Sie haben die Mann-Lektüre sicher nicht mit diesem Wälzer begonnen.

Gysi: Stimmt, angefangen habe ich mit "Mario, der Zauberer". Da hat er zu einer Zeit, da die Nazis noch keine Macht hatten, die psychologischen Seiten dieser Diktatur vorweggenommen. Genial.

Wallet: Im Zauberberg nimmt er die Stimmung vor dem Ersten Weltkrieg auf. Im Sanatorium, in dem sich der seltsame Held Hans Castorp einfindet, herrscht die schwüle Lethargie vor dem Gewitter.

Gysi: Es finden sich in dieser Welt alle dialektischen Verhältnisse des Lebens: Liebe und Hass, Gesundheit und Krankheit. Dann ist es eine europäische Gesellschaft - von Holland bis Daghistan. Doch die Menschen liegen da und warten auf den Tod. Alles bricht letztlich im Krieg zusammen. Das zieht den Leser in den Bann - weil man versteht, warum sie alle zum Untergang verurteilt sind. Und man erkennt die Widersprüche dieser Gesellschaft.

Wallet: Mann lässt sie ja in den Personen verkörpert zusammenprallen.

Gysi: Und dann der Held: Castorp saugt diese Welt auf, bleibt neugierig, entwickelt sich - aber ohne dass er am Ende als jemand dasteht, der die Welt begriffen hätte. Dann diese geniale Autor-Idee: Castorp reizt die Krankheit geradezu. Er freut sich über die Diagnose "Schatten auf der Lunge", die ihn zwingt, in diese morbide Welt des Untergangs einzutauchen. Und nun kann er auch seine komische Liebe zu dieser Madame Chauchat leben.

Wallet: Eine höchst unerfüllte Liebe.

Gysi: Ja, man denkt sich: Wenn er in diesen sieben Jahren nicht mehr packt als diese zwei Sätze und eine verdruckste Karnevalsnacht, dann muss seine Gesellschaft zugrunde gehen. Man möchte ihm zurufen: "Junge, mach doch endlich was!" Aber ihn lähmt diese allgemeine Passivität.

Wallet: Auch weltanschaulich kann er sich nicht entscheiden. Zwei Personen werben um ihn: Naphta, mit seinen christlichsozialistischen Ideen und der Aufklärer Settembrini.

Gysi: Naphta. Es gibt tatsächlich eine Art christlicher Sozialisten. Vielleicht ist Heiner Geißler auch einer. Der nimmt die soziale Frage ernst. Diese Leute sind mir näher gekommen dadurch.

Wallet: Wobei Naphta den Terror propagiert.

Gysi: Aber auch da hat Mann die Versuchung der Zeit erkannt. Das finde ich so gut an ihm. Der Leser muss Vorurteile abbauen, weil die Charaktere so tief sind, nie eindeutig, nie nur gut oder böse. Außerdem sind Naphta und Settembrini ja so hoch gebildet, dass es einem vor Scham die Beine weg hauen könnte.

Wallet: So ein Buch nimmt man nicht in die Hand, ohne lesegeschult zu sein...

Gysi: Mein Vater war Verleger, meine Mutter Verlegerin. Sie leitete erst den Verlag "Kultur und Fortschritt", eher russische Literatur. Dann Rütten und Loening, mehr für deutsche und französische Literatur zuständig. Mein Vater...

Wallet: ... der spätere Kulturminister der DDR...

Gysi: ... war Chef des Aufbau-Verlags, auch Vorsteher des Börsenvereins. Bücher gab es also immer reichlich. Da konnte man natürlich auch früh etwas über Chancenungleichheit lernen. In meiner Straße standen auf der einen Seite Einfamilienhäuser, auf der anderen Seite Mietshäuser. Mein Freund - andere Straßenseite - hatte zu Hause vielleicht fünf, sechs Bücher. Wir hatten mehrere tausend.

Wallet: Das kann erschlagen.

Gysi: Schon, und ich hatte eine Schwester, die viel las und liest. Aber irgendwann habe ich eben doch angefangen. Auf den Rat meiner Mutter hin mit Edgar Allan Poe. Das fand ich sehr spannend. Dann wollte ich einer viel lesenden Freundin imponieren. Die hat mir, glaube ich, auch den "Zauberberg" in die Hand gedrückt. Ich glaube, ich quälte mich ein bisschen durch. Vor fünf Jahren habe ich das Buch noch mal in die Hand genommen - und nach meinem Gefühl ein völlig anderes Buch gelesen.

Wallet: Doris Lessing ist eine Tante von ihnen.

Gysi: Ja, das ist die erste Frau des Bruders meiner Mutter.

Wallet: Hatten Sie Kontakt zu ihr?

Gysi: 1 Eines werde ich nie vergessen. Während der heißen Phase der Nachrüstungsdebatte rief sie bei uns in Ostberlin an und sagte, wie sehr sie sich Sorgen mache. Der nächste Krieg könne in Deutschland losgehen. Sie lade unsere Familie ein, nach London zu kommen und bei ihr zu wohnen. Eine fantastische Geste.

Wallet: Die DDR hatte zu Thomas Mann ein durchaus heikles Verhältnis.

Gysi: Ja, zu Heinrich Mann war das Verhältnis ungetrübter. Zu Thomas gab es aber immer mehrere Brücken: Er lebte in der Emigration. Er besuchte, als er nach dem Krieg nach Deutschland kam, auch die DDR und wurde im Pkw durchs Land gefahren. "Zufällig" verfuhr man sich und landete in der Thomas- Mann-Straße - nur damit er sehen sollte, dass wir eine Straße nach ihm benannt hatten. Es fuhr mit ihm der damalige zweite Sekretär des Kulturbundes der DDR - mein Vater.

Kölnische Rundschau, 23. August 2006