Der Berg kreißte und gebar eine Maus – das mag manch Beobachterin oder Beobachter kürzlich bei der Vorstellung der Pläne zur Wehrpflicht durch Verteidigungsminister Boris Pistorius gedacht haben. Nicht wenige glaubten, der Minister würde eine der grundlegendsten Wehrreformen seit Jahren präsentieren: Eine Rückkehr zu einer, wenn auch erneuerten, Wehrpflicht. Stattdessen verkündete er lediglich den Plan, allen jungen Männern ein Schreiben der Bundeswehr zukommen zu lassen, in dem gefragt wird, ob Interesse an einem Wehrdienst bestünde oder nicht. Die Beantwortung dieses Schreiben soll verpflichtend sein. Donnerwetter!
Auf den ersten Blick fragt man sich, was all die gewaltige, kontroverse Debatte vorab sollte, wenn so wenig präsentiert wurde – zumal von dem Minister, der das Aussetzen der Wehrpflicht als Fehler bezeichnete und der m.E. viel zu viel über Wehrpflicht und Kriegstüchtigkeit spricht. Darum werbe ich für einen zweiten Blick auf die politische Großlage. Nächstes Jahr wird ein neuer Bundestag gewählt. In diesen Kontext sollte die Debatte rund um die Wehrpflicht eingeordnet werden.
Künftige Regierungskoalitionen brauchen neben machtpolitischen Erwägungen Ideen und Projekte, hinter denen sich Parteien versammeln und vereinen lassen. Mit einer Rückkehr zu einer wie auch immer konkret gestalteten Wehrpflicht dürften Minister Pistorius und mit ihm relevante Teile der SPD ein Projekt gefunden haben, das Grünen und FDP nicht schmeckt – ganz im Gegensatz zur Union. Die CDU wirbt seit Monaten vehement für eine Wehrpflicht, einen entsprechenden Beschluss hat deren Parteitag mit überwältigender Mehrheit jüngst gefasst. Die CSU sekundiert bei jeder Gelegenheit. Längst vergessen scheint, dass es die Union und deren Verteidigungsminister zu Guttenberg und de Maizière waren, die im Jahr 2011 für eine Aussetzung der Wehrpflicht sorgten.
Natürlich ist nicht völlig auszuschließen, dass auch FDP und Grüne sich beim Thema Wehrpflicht bewegen, aber klar wäre auch, dass es dann Berge zu versetzen gelte – vor allem in der eigenen Anhängerschaft. Im Gegensatz zur Union. Umso besser versteht man, warum Verteidigungsminister Boris Pistorius kürzlich nicht mehr präsentieren konnte als das, was auf den ersten Blick ausschließlich ein staatlich finanzierter Werbebrief der Bundeswehr an alle jungen Männer ist. Mehr war und ist aktuell mit den Koalitionspartnern FDP und Grünen nicht zu machen. Es braucht keine große Fantasie, um zu verstehen, dass einer wie Boris Pistorius gern mehr wollte und will. Eine richtige, „moderne“ Wehrpflicht. Die allerdings würde er am schnellsten und so weitgehend wie möglich mit der Union bekommen.
So klein das jetzige Reförmchen auch war, es kann als der Einstieg in eine neue Wehrpflicht gelesen werden, und taktisch als Element eines möglichen Einstiegs in eine schwarz-rote Koalition. Was mit Grünen und FDP sicher ein Zankapfel wäre, ist mit Blick auf die Union ungleich leichter. Ein gemeinsames Thema, ein gemeinsames Projekt – eines, das zwar auch in der SPD nicht unumstritten ist, aber das mit Sicherheit nicht der Grund sein dürfte, um eine Koalitionsmöglichkeit liegen zu lassen. Zumal in diesen auch für die SPD schweren Zeiten.
Eine Koalition mit der CDU ohne Wehrpflicht einzugehen, erscheint in diesen außenpolitisch aufgeladenen Zeiten nahezu unmöglich. Genauso wie eine Chance der Ampelparteien auf eine gemeinsame neue Regierungsbildung. Irgendjemand wird sich bei diesem Thema bewegen müssen. Boris Pistorius hat ein deutliches Zeichen gesetzt – vielleicht auch für sich selbst. Bundeskanzler Olaf Scholz gilt nicht als Fan einer Wehrpflicht, Pistorius nicht als Befürworter einer eigenen Kanzler-Kandidatur. Ein SPD-Verteidigungsminister in der nächsten Regierung ist wahrscheinlicher als ein SPD-Kanzler. Insbesondere einer, der so vehement für eine Wehrpflicht wirbt und arbeitet.