Der Fraktionschef der Linkspartei, Gregor Gysi, spricht mit Welt am Sonntag über linke Wirtschaftspolitik, die DDR als Modell für die Große Koalition und eine späte Einsicht über die Stärke des Marktes.
Niemand kann Gregor Gysi nachsagen, er scheue die Konfrontation. In der DDR verteidigte er als Anwalt Republikflüchtige. Den Staatsvertrag über die Währungs- und Wirtschaftsunion der beiden deutschen Staaten kanzelte er als „Unterwerfung“ ab. Und seit einigen Jahren versucht er gegen hartnäckigen Widerstand, die SPD-Abspaltung WASG und die PDS zu einer gemeinsamen deutschen Linkspartei zu vereinigen. Auf dem gemeinsamen Parteitag am 24. März soll es so weit sein. Die Zeit sei reif, sagt Gysi, denn linke Politik werde wieder salonfähig.Welt am Sonntag: Herr Gysi, in einem Kommentar der linken „Tageszeitung“ stand neulich: „Links von der Mitte herrscht organisierte Langeweile.“ Ärgert Sie das?
Gregor Gysi: Ich finde unsere Neubildung einer Partei eher ungeheuer spannend. Noch viel spannender ist, dass die Bevölkerung der alten BRD bei der vergangenen Bundestagswahl erstmalig nach 1949 4,9 Prozent Stimmen links von der Sozialdemokratie abgegeben hat. Das ist ein gewaltiger politischer und kultureller Sprung. Aber das heißt eben auch, dass die Linke jetzt viel schneller gefordert ist, als wir darauf vorbereitet waren.
Während Sie sich mit sich selbst beschäftigen, wildert selbst die CDU links der Mitte. Jetzt soll es überall Krippenplätze geben, eine alte Ost-Errungenschaft.
Gysi: Was Familienministerin Ursula von der Leyen organisiert, ist zwar ein Kultursprung in der Union. Der ist aber auch fällig. Beleidigt ist ja nur die SPD, weil ihr ein Thema weggenommen wurde. Sie dürfen auch nicht vergessen, dass das im Osten das Selbstbewusstsein stärkt. Jahrelang gab es den Vorwurf, dass die Ostdeutschen ihre Kinder fremdbestimmt aufwachsen ließen. Und plötzlich kommt der Vorschlag aus der diesbezüglich aber uneinigen CDU, eine DDR-Einrichtung einzuführen.
Es geht nicht nur um von der Leyen. Der Rest der Großen Koalition will sogar Mindestlöhne. Ist es gut oder schlecht für Sie, dass die Regierung so nach links rückt?
Gysi: Vom gesetzlichen Mindestlohn ist sie noch weit entfernt. Als Oskar Lafontaine und ich aber über den gesetzlichen Mindestlohn im Wahlkampf gesprochen haben, ist uns immer gesagt worden, das sei ökonomisch völliger Unsinn. Nach der Wahl hat dann selbst Angela Merkel darüber gesprochen. Wenn man Gesellschaft verändern will, kann man sich nicht beschweren, wenn man das erreicht. Die CDU ist als linke Konkurrenz für uns außerdem immer noch aushaltbar, würde ich sagen.
Ist die Große Koalition wirtschaftspolitisch linker als Rot-Grün?
Gysi: Nein. Die setzen die Schritte von Gerhard Schröder ja konsequent fort. Schröder hat Sozialabbau betrieben mit gleichzeitigen Steuergeschenken an Vermögende, Konzerne und Großverdiener. Davon korrigiert die neue Regierung nichts. Im Gegenteil, sie kürzt die Pendlerpauschale, sie senkt die Körperschaftsteuer, sie führt keine Vermögensteuer ein, senkt den Spitzensteuersatz der Einkommensteuer, und zeitgleich sagt man den Arbeitslosen und Kranken: Es ist leider weniger Geld da, tut uns furchtbar leid. Und jetzt auch noch die Rente ab 67.
Was wäre denn die linke wirtschaftspolitische Antwort auf die Probleme der Rente bei immer mehr Alten?
Gysi: Als Bismarck die Rente einführte, waren 90 Prozent der Deutschen mit Einkommen abhängig beschäftigt und zahlten ein. Heute sind das nur noch 60 Prozent. In der nächsten Generation sollte also jeder einzahlen müssen. Zweitens sollte man die Beitragsbemessungsgrenzen schrittweise aufheben. Dann muss man natürlich bei den Besserverdienern die Rentensteigerung deutlich verlangsamen. Darüber müssten wir diskutieren, nicht über Rentenkürzungen.
Die angeblich neoliberale Politik der vergangenen Jahre scheint aber doch zu funktionieren. Die Wirtschaft wächst, Jobs entstehen.
Gysi: Das ist doch ein Aufschwung, von dem die Leute nichts haben. Es entstehen Minijobs und schlecht bezahlte Jobs in der Zeitarbeit. Früher in den 60er-, 70er- und 80er-Jahren ging es in der alten BRD auch den Leuten besser, wenn es wirtschaftlich bergauf ging. Heute ist das nicht mehr so. Das Vertrauen steigt auch nicht. Einer bestimmten Schicht geht es immer besser. Und den anderen geht es entweder gleich oder schlechter.
Ist der Blick zurück in die 60er in Zeiten globalen Wettbewerbs wirklich eine schlaue Idee?
Gysi: Man kann wirtschaftliche Attraktivität auch anders als mit niedrigen Standards erreichen. Ich hatte einmal ein langes Gespräch mit einem reichen US-Investor, der immer wieder den Kündigungsschutz kritisierte. Da habe ich ihn gefragt: „Warum sind die Mitarbeiter in Ihrem Unternehmen fleißig?“ „Aus Angst“, sagte er. Ich erzählte ihm dann, wie ich vor längerer Zeit im Urlaub am Schwarzen Meer einmal einen Mercedes-Mitarbeiter getroffen habe, der redete über Mercedes so, als ob ihm die Firma gehörte. So verbunden war der mit seinem Unternehmen. Und wir sind gerade dabei, diese Kultur zu zerstören. Wer nutzt wohl einem Unternehmen mehr: einer, der sich identifiziert oder einer, der Angst hat?
WELT ONLINE: Erschöpft sich darin linke Wirtschaftspolitik? Das Bestehende behalten und dafür den Reichen Geld abnehmen ist nicht sehr innovativ.
Gysi: Ich bin für einen Systemwechsel hin zum demokratischen Sozialismus. Aber eines habe ich von Marx gelernt: Es setzen sich immer Interessen durch. Gesetze können Interessen zwar regulieren, aber nie überwinden. Sie sind immer schwächer als ökonomische. Also hilft es nichts, wenn Sie alles verbieten, was Ihnen nicht gefällt.
WELT ONLINE: Das klingt eigentlich eher nach Markt als nach Marx.
Gysi: Als ich kürzlich in Südamerika war, habe ich den Freunden aus Bolivien gesagt, sie sollten nicht die gleichen Fehler begehen wie damals im Staatssozialismus: alles verstaatlichen mit dem Ergebnis, dass man eine unproduktive Mangelwirtschaft bekommt. „Eure Rohstoffe, die Schätze des Landes, müssen in staatliche Hand kommen“, habe ich gesagt. Der Staat soll auch für die öffentliche Daseinsvorsorge wie Bildung, Energie, Wasser, Verkehr und Gesundheit zuständig sein. Aber nicht für die staatliche Bäckerei. Man muss daneben eine faire Marktwirtschaft organisieren, weil das die Qualität erhöht und die Preise drückt. Sonst haben die Leute nichts mehr davon und wollen den Sozialismus wieder abschaffen.
In Venezuela wird gerade eine Einheitspartei gegründet, ausländische Konzerne werden enteignet. Das sieht nicht nach etwas aus, was man unterstützen sollte, oder?
Gysi: Ich habe nur die Sorge, dass Präsident Hugo Chávez darüber nachdenkt, wie man demokratische Kontrolle verhindert. Das wäre nicht klug. Jede Machtstruktur bedarf demokratischer Kontrolle, und die DDR-Führung hatte keine. Ich bleibe aber davon überzeugt, dass der Kapitalismus nicht die letzte Antwort der Geschichte ist, weil nicht alles am Geld hängen darf.
Die Welt schrumpft, im übertragenen Sinn, alles wird vergleichbarer, die Konkurrenz wird grenzenloser. Wollen Sie die Globalisierung stoppen, oder was haben Sie vor?
Gysi: Nein, die Globalisierung muss nur anders organisiert werden. Wir werden nicht vom Welthandel wegkommen und wollen, dass die Gesellschaften sich angleichen. In der Globalisierung liegen ja auch Chancen. Unterschätzen Sie nicht die Bedeutung des Internets für die Demokratie. Vieles geht aber auch national. Heute gilt leider die neoliberale These: Je unsozialer man ist, desto attraktiver ist man für die Wirtschaft. Wir sind globalisierungskritisch und gegen grenzenlose Deregulierung. Diejenigen, die die Attentate vom 11. September geplant haben, haben dereguliert profitiert, weil sie genau wussten, welche Aktien verlieren würden.
Haben Sie Aktien?
Gysi: Nun werden Sie mal nicht komisch.
Ist das keine legitime Frage?
Gysi: Was soll ich denn für Aktien haben? Ich bin ja ganz gut versorgt.
Und wenn Sie nicht Bundestagsabgeordneter wären?
Gysi: Dann hätte ich ein Problem. Aus meiner DDR-Zeit bekomme ich nur eine geringe gesetzliche Rente. Andere müssen davon leben, aber mir fiele das doch sehr schwer. Das zeigt, dass wir die gesetzliche Rente anders, als es jetzt geschieht, reformieren müssen.
Mögen Sie Aktien aus Prinzip nicht?
Gysi: Nein, ich habe dazu ja kein ideologisches Verhältnis. Ich weiß doch, wie viele Kleinaktionäre es gibt. Ich bin Linker geworden, weil ich will, dass es den Leuten besser geht. Also möchte ich nicht, dass sie Aktien kaufen und dann auf die Schnauze fallen. Wenn es ihnen dadurch aber besser geht, warum nicht? Ein bisschen Spieltrieb entspricht wohl unserer Natur.
Würden Sie bei der nächsten Bundestagswahl gern die Rolle der SPD als traditioneller Partner der Gewerkschaften einnehmen?
Gysi: Die Gewerkschaften sollten parteiübergreifend sein und nicht nur, aber auch mit uns zusammenarbeiten. Das nutzt beiden und hat schon begonnen.
Warum sollten die Gewerkschaften sich auf Sie verlegen?
Gysi: Das wollen immer mehr Gewerkschaftsmitglieder, und die Gewerkschaften können bei einem besser werdenden Verhältnis zu uns die SPD erfolgreich unter Druck setzen.
Das Gespräch führten Ulrich Machold und Flora Wisdorff
Welt am Sonntag, 18. März 2007