Am 27. September 1998 wählten die Bürgerinnen und Bürger erstmals in der Bundesrepublik Deutschland eine Regierungskoalition ab. Aufbruchstimmung trug Sozialdemokraten und Grüne in Ministerämter. Nach 16 Jahren Helmut Kohl wurde Gerhard Schröder am 27. Oktober 1998 Kanzler der Bundesrepublik Deutschland. Mit Petra Pau und Ulrich Maurer äußern sich zwei Mitglieder der Fraktion DIE LINKE, die sich im zurückliegenden Jahrzehnt durchgehend mit sozialdemokratischem Regierungswirken auseinander gesetzt haben.
Petra Pau und Ulrich Maurer - 1998 war für Sie beide ein Erfolgsjahr: Während die Partei des einen die sechzehnjährige Regentschaft Helmut Kohls beendete, errang die andere gleich bei ihrer ersten Kandidatur zum Bundestag ein Direktmandat. Welche Erinnerungen haben Sie an die Tage um den 27. September 1998.
Ulrich Maurer: Eine Mischung von Glück - wegen des Sturzes von Helmut Kohl - und Sorge - weil mir schon klar war, was ich von Fischer und Schröder zu halten habe.
Petra Pau: Damals hatte ich für alle überraschend den Berliner Wahlkreis Mitte-Prenzlauer Berg vor Wolfgang Thierse (SPD) gewonnen. Das war schon Wahnsinn. Aber das war auch typisch. Sehr viele wollten, dass Rot-Grün die Kohl-Ära beendet. Das zeigten ihre Zweitstimmen. Aber mit der Erststimme für mich wählten sie zugleich eine linke Versicherung. Inzwischen weiß ich: Zu meinen Wählern gehörten damals auch viele DDR-Bürgerrechtler, die auch in der Bundesrepublik Bürgerrechtler geblieben sind. Ich habe das seither stets als besondere Verpflichtung begriffen.
Eine Oppositionspolitikerin steht der Regierung grundsätzlich skeptisch gegenüber. Richtig enttäuschen konnte da doch sozialdemokratische Regierungspolitik nicht wirklich?
Petra Pau: Doch, auch wenn es im Rückblick naiv klingen mag. Aber damals glaubte niemand, dass ausgerechnet SPD und Grüne soziale Tabus brechen würden, an die sich selbst Helmut Kohl nicht herangewagt hatte. Rot-Grün hat das Solidarprinzip geopfert. Rot-Grün hat Finanz-Hassadeure hofiert. Und Rot-Grün hat Kriege zur Friedens-Bewegung verklärt. Das einzig Gute, was bleibt: Rot-Grün hat DIE LINKE „gezeugt“. Und nun ist es wie bei Schillers Zauberlehrling: Sie werden die Geister nicht mehr los, die sie riefen.
Wann wurde Ihnen klar, dass die Regierung nicht versehentlich eine Fehlentscheidung nach der anderen trifft, sondern einen grundsätzlichen Kurs verfolgt?
Petra Pau: Als sich die SPD weigerte, die Vermögenssteuer zu erneuern, obwohl sogar Millionäre aus Hannover damals gefordert hatten, die Reichen mehr zu besteuern und die Armen zu entlasten. Und am 19. Dezember 2003. An diesem Freitag wurde im Bundestag „Hartz IV“ besiegelt. Es ging übrigens um 600 Seiten Gesetzestext, die erst Stunden zuvor ausgereicht wurden. Kein normaler Abgeordneter konnte sie gelesen haben. Trotzdem stimmten alle Fraktionen forsch zu. Nur Gesine Lötzsch und ich waren damals für die PDS dagegen. Dafür wurden wir von der Union als „gottlose Typen“ beschimpft.
Als Schröder Kanzler wurde, waren Sie schon fast 30 Jahre SPD-Mitglied. Da sagt man ja nicht von einem Tag auf den anderen, hier mache ich nicht mehr mit.
Ulrich Maurer: Nein. Ich habe mich auch lange genug damit gequält. Ausschlaggebend für meinen Austritt aus der SPD war die Agenda 2010 und die Tatsache, dass die Partei selbst nach der katastrophalen Niederlage bei den Landtagswahlen in NRW nicht bereit war, ihren Kurs zu ändern.
Hunderttausende haben wegen der Politik Schröders und Münteferings die SPD verlassen. Die Stimmung in der Partei muss hochexplosiv gewesen sein.
Ulrich Maurer: Einerseits ja, aber andererseits war die Partei von Schröder und seinen Netzwerkern bereits so gelähmt, dass es zu keinem organisierten Aufstand kam.
Und dennoch haben sozialdemokratische Parteitage und Bundestagsabgeordnete mehrheitlich für Kriege und beispiellosen Sozialabbau gestimmt.
Ulrich Maurer: Wie ich schon sagte, hatten die Schröderianer den Parteiapparat bereits völlig unter Kontrolle. Die Parteitage und die Haltung der Abgeordneten waren bestimmt entweder durch bedingungslose Gefolgschaft oder durch eine Mischung von Furcht und Opportunismus.
Hat die Regierungspartei SPD in der letzten 10 Jahren der Demokratie in der Bundesrepublik geschadet?
Petra Pau: Hören Sie nicht, wie es im Grab von Willy Brandt rumpelt? Von den vielen schlechten Beispielen will ich nur an eines erinnern. Als es 2005 um die EU-Verfassung ging, da gab es eine breite gesellschaftliche Bewegung für eine Volksabstimmung, also für direkte Demokratie auch auf Bundesebene. SPD-Kanzler Schröder log damals frech, das würde das Grundgesetz verbieten. Und Grüne-Außenminister Fischer tönte, er lasse sich sein schönes EU-Werk nicht vom Volk vermiesen.
Mit Müntefering und Steinmeier haben gerade erst wieder Schröders Erfüllungsgehilfen das Kommando zurückerobert. Wohin steuert die SPD?
Ulrich Maurer: In eine weitere Kette schwerer politischer Niederlagen.
Um ihre Ziele umzusetzen, braucht DIE LINKE langfristig Partnerinnen. Wer soll das sein?
Petra Pau: Jüngst sagte mir ein weltweit agierender Berliner Unternehmer: „Ich würde sofort Millionen springen lassen, wenn es dadurch bessere Bildung für alle gibt.“ Bei meinem Besuch im Dom zu Halberstadt war das Echo: „Wir müssen die Finanz-Spekulanten endlich politisch fesseln.“ Neulich demonstrierten über 50 000 in Berlin „für Freiheit, gegen Überwachung“. Sie alle und viel mehr sind potentielle Partner. Ich halte nichts von linker Besserwisserei im roten Salon. Das wahre Leben ist widersprüchlicher und vielfältiger. Und die Partner sind es auch.
linksfraktion.de, 27. Oktober 2008
Die Geister, die sie riefen
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