Eine Glosse von G.A. Mierend
Die NSA belauscht das Kanzleramt laut Wikileaks nicht erst neuerdings, sondern seit Jahrzehnten.
Erstaunen oder gar Empörung sind allerdings unangebracht. Die Amerikaner hatten außer drei sehr guten Gründen (Kohl, Schröder, Merkel) noch viele weitere:
Interception Target +4922856XXXX: FRG CHANCELLOR KOHL
Schon in Helmut Kohls vor 15 Jahren erschienenen Tagebüchern steht, er habe sich „nie Illusionen gemacht, dass in Bonn nicht abgehört wird“. Das heißt, er wusste zu viel. Daher versuchte Kohl, sich der alliierten Kontrolle zu entziehen, indem er sich für vertrauliche Gespräche zu öffentlichen Telefonen chauffieren ließ.
Was der Kanzler nicht ahnte: Die US-Dienste werteten seine Heimlichtuerei als feindlich-negativen Akt. Der Mann hatte etwas zu verbergen. Die NSA stellte im Rheinland Tausende Münzfernsprecher auf, die im Gegensatz zu denen der Bundespost immer funktionierten. Allerdings waren sie durch ein technisches Versehen minimal kleiner als die Originale. Kohl musste wiederholt von der Feuerwehr aus der Telefon-Zelle(!) befreit werden.
Angesichts dieser demütigenden Erfahrungen schützt er seine Kommunikation heute mit einer analogen Firewall namens „Maike Richter“.
Selbstverständlich kennen die Amerikaner die von Kohl hartnäckig gehüteten Namen der CDU-Parteispender. Dass er ihre Nennung bis heute verweigert, liegt nicht daran, dass er einst ein Ehrenwort gab oder die Namen inzwischen vergessen hat. Nein, die Daten gehören längst der NSA. Es wäre Geheimnisverrat, sie zu offenbaren, sollte es dazu kommen, drohte dem Altkanzler der elektrische Stuhl.
Interception Target +493018400XXXX: GER CHANCELLOR SCHROEDER
Im Weißen Haus herrschte große Unruhe, als man dort kurz nach der Jahrtausendwende erfuhr, dass Gerhard Schröder eine „Agenda 2010“ verfolge. Gerade erst hatte Deutschland nach längerer Abstinenz wieder an einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg teilgenommen. Die Amerikaner fürchteten, Schröder und sein Spießgeselle Joschka Fischer könnten dadurch auf den Geschmack gekommen sein und damit liebäugeln, blitzkriegartig beim Nato-Verbündeten Toskana einzufallen.
Die gründliche elektronische Überwachung sorgte für große Erleichterung in Washington: In Wirklichkeit verbarg sich hinter „Agenda 2010“ lediglich ein massiver Generalangriff auf sozial Schwache.
2013 erzählte Schröder, er sei „immer davon ausgegangen, dass Brüder mithören“. Mit dieser Formulierung gab er einen tiefen Einblick in seinen beobachtungsbedürftigen Antiamerikanismus und bestätige die Ausspäher in ihrer Skepsis. Der erdgasgetriebene Gefühlsrusse sagte tatsächlich „Brüder“, weil er wusste: Freunde kann man sich aussuchen.
Interception Target +49173948XXXX: GER CHANCELLOR MERKEL
Angela Merkel lud als Oppositionsführerin Misstrauen auf sich, weil sie kurz vor dem Irak-Krieg 2003 nach Washington reiste, um George W. Bush ihre Hilfe bei der Suche nach Saddams Massenvernichtungswaffen anzubieten. Die Amerikaner waren ratlos: Glaubte die wirklich daran? War es Ironie? Oder hatte man es mit einer eiskalten, von der FDJ geschulten Meisterin der Camouflage zu tun?
Erst recht schrillten die Alarmglocken der US-Oberen, als Merkel nach Bekanntwerden der NSA-Ausspähung darauf verzichtete, Unterhändler zu entsenden. Stattdessen schickte sie Pofalla und Friedrich in die USA. Wieder rätselten die Amerikaner: Machte sich die Kanzlerin über sie lustig oder signalisierte sie ihre Kapitulation?
Dass Merkel mittlerweile in das Rund-um-die-Uhr-Überwachungs-Programm der NSA aufgenommen wurde, hat sie sich selber zuzuschreiben. Ihre ständigen Haken und 180-Grad-Wendungen (Atomausstieg, Mindestlohn, Maut usw.) haben die Schutz- und Sicherheitsorgane der USA endgültig verunsichert. Will die Kanzlerin mit ihrer Unberechenbarkeit die amerikanische Aufklärung behindern? Doch egal, ob Merkel Planlosigkeit zur Desorientierung des Freundes einsetzt oder einfach kein Konzept hat – auf die NSA werden wir uns auch künftig verlassen können.
linksfraktion.de, 10. Juli 2015