Gregor Gysi über den Wandel in der SPD und der Gesellschaft
Die SPD hat nach Ansicht der Linken ein Programm beschlossen, das weit von der praktischen Politik der Sozialdemokraten entfernt ist. "Das neue SPD-Programm ist zum Teil ziemlich links, sodass die Leute nicht unterscheiden können, ob die Sätze von denen oder von uns sind", sagte der Fraktionschef der Linken, Gregor Gysi, im Gespräch mit der "Welt am Sonntag". Gleichwohl seien die Sozialdemokraten dabei, sich zu verändern.In der rot-grünen Regierungszeit sei die SPD "unsozialdemokratisch geworden". Nun müsse die Partei in einem "quälenden Prozess" wieder zurück zur Sozialdemokratie. "Es ist immer ein Problem, wenn eine Parteiführung anfängt, eine Politik zu machen, die mit der Mehrheit der Wähler immer weniger zu tun hat. Das kann eine Weile gut gehen. Aber irgendwann geht es schief", sagte Gysi. Nun versuche die SPD, sich wieder an der gesellschaftlichen Stimmung zu orientieren.
"Das Entscheidende an einer Gesellschaft ist immer der Zeitgeist. Der ändert sich. Über Jahre hinweg stand die soziale Frage gar nicht auf der Tagesordnung. Sie spielte in den Talkshows keine Rolle. Jetzt ist sie da", so der Linke-Fraktionschef. In der rot-grünen Regierungszeit hätten Gerhard Schröder und Joschka Fischer eine Politik gemacht, die Helmut Kohl "nicht gewagt hätte. Und sie haben dabei eines nicht bedacht: In einer Gesellschaft ist es ganz wichtig, was man zeitgleich macht."
Schröder sei gegen die Vermögensteuer gewesen, habe den Spitzensteuersatz um elf Prozent gesenkt, die Körperschaftsteuer für Aktiengesellschaften sogar von 45 auf 25 Prozent. Gleichzeitig habe er den Rentnern Nullrunden verordnet und Hartz IV beschlossen. So etwas vertrage keine Gesellschaft. "Vielleicht wissen die Leute nicht so genau, was gerecht ist. Aber sie wissen ziemlich genau, was ungerecht ist", so der Linke-Fraktionschef.
Damals habe er sich gefragt: "Wohin gehen denn jetzt diejenigen, die SPD gewählt haben und nun enttäuscht sind? Zu meiner Partei kamen sie nicht, sondern sie gründeten eine eigene, das fand ich einerseits enttäuschend, aber andererseits auch spannend. Und dann ist es manchmal so eine historische Figur wie Oskar Lafontaine, die sagt, ich habe die Nase voll und trete für euch unter der Bedingung an, dass ihr zusammengeht."
Mit Lafontaine habe die Linke deutlich mehr Aufmerksamkeit erfahren. So sei es gelungen, bei Themen wie dem Mindestlohn Hoffähigkeit zu erlangen. "Damit haben wir die SPD völlig verunsichert", sagte Gysi. Nur deshalb sei es zu dem aktuellen Kurswechsel der Sozialdemokraten gekommen.
Diese Kurskorrektur bedrohe die weitere Entwicklung der Linken jedoch nicht. "Der Agenda-Prozess hat zu lange gedauert. Die Leute wissen, dass die SPD nur in dem Maße sozialdemokratischer wird, in dem wir gestärkt werden." Obwohl er außerordentlich froh über die gegenwärtige Entwicklung sei, bereite sie ihm jedoch auch einige Kopfschmerzen. "Ich dachte, wir hätten eine etwas längere Vorbereitungszeit. Wir sind in einem Tempo gefordert, wie ich das 1990 nicht erwartet habe. Ich dachte, es geht ums Überwintern, der Traum von einer sozial gerechten Gesellschaft bleibt, und man muss sehen, dass dieser auch organisatorisch aufrechterhalten wird", so Gysi. Dann aber habe der Neoliberalismus einen unerwarteten Siegeszug geführt, der die Linke zu einem Zeitpunkt überraschte, als sie darauf noch nicht genug vorbereitet war.
So wie der Zeitgeist
eine bestimmte Politik ermögliche oder verlange, bereite er auch den Weg für Koalitionen. "Politische Koalitionen hängen formal von der Arithmetik ab", sagte Gysi. "Aber zu 90 Prozent ausschlaggebend ist die Stimmung in der Gesellschaft. Wenn die Stimmung es verlangt, passiert es, und wenn nicht, passiert es nicht." Zusätzlich zur sozialen Frage spiele auch die Kriegsfrage eine zunehmend entscheidende Rolle in der Gesellschaft. "Und wenn sich das zuspitzt, dann ändert sich auch die SPD. Und wenn sich die SPD ändert, dann gibt es irgendwann einen Grad an Übereinstimmung, bei dem wir gar nicht umhinkommen zu koalieren", sagte Gysi.
Günther Lachmann
Welt am Sonntag, 29. Oktober 2007