Der Vorsitzende der IG Metall, Berthold Huber (59), spricht im Interview mit linksfraktion.de über die aktuelle Wirtschaftskrise, mehr Demokratie in Unternehmen und die Rente ab 67 Jahren.
Was sind aus Ihrer Sicht die Ursachen für die aktuelle Finanz- und Wirtschaftskrise?
Berthold Huber: Diese Krise ist eine Systemkrise, ganz eindeutig. Der Kapitalismus hat einen Infarkt und bedarf einer grundlegenden Veränderung. Die Wirtschaft muss demokratisiert und das Aktienrecht verändert werden. Nicht das Wohl des Aktionärs darf alleiniger Maßstab sein, sondern das Wohl der Beschäftigten und der Allgemeinheit. Die Mitbestimmung muss in allen Unternehmen mit mehr als 200 Beschäftigten Einzug finden. Die Bezahlung der Vorstände und Manager muss sich an nachhaltigen Unternehmenszielen ausrichten, nicht an kurzfristigen Renditezielen. Klar ist auch, dass die Finanzmärkte reguliert werden müssen, das Casino muss geschlossen werden. Es hat wenige Menschen sehr reich gemacht, und die anderen zahlen jetzt die Zeche.
Welche Erwartungen und Befürchtungen haben Sie angesichts der Krise für die nächsten Wochen und Monate?
Einen schnellen Aufschwung sieht bei uns niemand. Man sollte nicht auf die Börse starren, sondern die Auftragseingänge der Unternehmen betrachten. Tatsache ist, wir sind noch lange nicht über den Berg. Wir werden weitere Anstrengungen unternehmen müssen, um unser Ziel, „Keine Entlassungen in der Krise“, zu erreichen.
Am 16. Mai haben in Berlin 100 000 Menschen an einer Demonstration des Deutschen Gewerkschaftsbundes teilgenommen. Wie geht es jetzt weiter?
Die IG Metall hat im Rahmen ihrer Kampagne „Gemeinsam für ein Gutes Leben“ eine breit angelegte Befragung gestartet. Gefragt wird in den Betrieben, auf Marktplätzen und in den Hochschulen, wie Menschen in Zukunft leben möchten. Wir wollen Antworten, aber wir wollen Menschen auch gewinnen, sich intensiver mit Fragen der zukünftigen Entwicklung zu beschäftigen. Wir werden die Ergebnisse dieser großen Befragung Anfang Juli vorstellen. Für September, kurz vor der Bundestagswahl, planen wir eine Veranstaltung in Frankfurt, wo wir ebenfalls für die Vorstellungen und Konzepte der Gewerkschaften werben wollen. Wir werden die Parteien mit den Vorstellungen der Menschen, was sie unter einem guten Leben verstehen, konfrontieren.
Kürzlich haben Sie geäußert, wenn es zu massenhaften Entlassungen kommt, wird es auf jeden Fall Widerstand geben, und zwar breiten Widerstand. Wie wird dieser konkret aussehen und was lässt sich damit bewirken?
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer werden es nicht klaglos hinnehmen, wenn sie als Opfer der Krise auch noch die Zeche zahlen sollen. Es gibt keinen Grund, Menschen zu entlassen. Die Unternehmen haben tarifpolitische und arbeitsmarktpolitische Instrumente in die Hand bekommen, um dies zu verhindern. Bei Unternehmen, die trotzdem Massenentlassungen vornehmen wollen, werden wir uns mit den Kolleginnen und Kollegen wehren.
Die IG Metall fordert eine Zukunftsanleihe auf Vermögen über 750 000 Euro. Was halten Sie von dem Vorschlag von DIE LINKE, einen Zukunftsfonds mit 100 Milliarden Euro auszustatten, der großen und kleinen Betrieben im Austausch gegen Eigentumstitel des Unternehmens zugunsten der Belegschaften und der öffentlichen Hand Hilfe leistet, um Arbeitsplätze zu retten?
Die Zukunftsanleihe ist ein Instrument, um langfristige Investitionen in Unternehmen zu finanzieren. Was den Unternehmen heute fehlt, ist die Finanzierung des tagtäglichen Geschäfts und eben Eigenkapital. Zu der jetzigen Krise bedarf es mehr öffentlicher Beteiligung.
DIE LINKE hält mehr Demokratie in den Unternehmen für dringend notwendig und fühlt sich durch die Wirtschaftskrise bestätigt: Beschäftigte sind am Erhalt von Arbeitsplätzen interessiert, nicht an schnellem Profit. Was erwarten Sie von einer echten paritätischen Mitbestimmung?
Für uns ist vollkommen klar: Wenn wir aus der Krise nicht die notwendigen Lehren ziehen, werden wir uns nach der Krise am gleichen Punkt befinden. Eine Erkenntnis ist doch, dass Mitbestimmung ein Erfolgsgarant für eine nachhaltige Entwicklung von Unternehmen ist. Sie ist das stabilisierende Korrektiv, wenn allzu überfliegerische Träume von Managern und Geschäftsführern reifen. Volkswagen ist das weithin sichtbare Zeichen für die Erfolgsbilanz der Mitbestimmung. Unsere Schlussfolgerung aus der Krise lautet: mehr Mitbestimmung für Betriebsräte und in den Aufsichtsräten.
Die Gewerkschaften hatten bei ihren großen Protesten gegen die Rente ab 67 Jahren angekündigt, die Bundestagswahl 2009 zu einer Abstimmung über dieses Gesetz zu machen. Was ist von der IG Metall zu erwarten?
Die Rente mit 67 gewinnt nicht an Plausibilität. Sie bleibt eine falsche Entscheidung und führt gerade heute für viele Menschen in die Sackgasse von Hartz IV. Die IG Metall hat die Rente mit 67 schon bei ihrem Beschluss kritisiert und für falsch gehalten. Aber angesichts einer Beschäftigungskrise die Lebensarbeitszeit zu verlängern, kann nun wirklich nicht richtig sein. Die IG Metall hat ein eigenes rentenpolitisches Konzept vorgelegt, das auf einer solidarischen Erwerbstätigenversicherung basiert. Wir sehen die Zukunft in einem soliden Umlageverfahren für alle Erwerbstätigen in Kombination mit einem Betriebsrentenmodell für alle.
Eine Zeitarbeitsfirma hat jüngst mit Rabatten auf Leiharbeiter geworben. In dem Prospekt unter dem Slogan „Alle müssen raus!“ waren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer abgebildet wie sonst Lebensmittel und Küchengeräte. Die IG Metall hat deshalb alle Abgeordneten des Bundestages aufgefordert, sich für gleichen Lohn für gleiche Arbeit einzusetzen. DIE LINKE hat schon im Jahr 2006 einen Antrag dazu in den Bundestag eingebracht. Dieser wurde aber von SPD, CDU/CSU und FDP abgelehnt. Wie kann die IG Metall Druck ausüben, damit die „moderne Sklaverei“ endlich ein Ende hat?
Die IG Metall hat im vergangenen Jahr eine bundesweite Kampagne zu Leiharbeit gemacht. Diese Kampagne hat uns nicht nur rund 11 000 neue Mitglieder in der Branche gebracht, sondern auch die Sensibilität für die Themen und die Arbeitsbedingungen von Leiharbeitnehmern erhöht. Leiharbeit hat Belegschaften gespalten und immer mehr das Normalarbeitsverhältnis verdrängt. Aus der Ausnahme zur Überbrückung von Engpässen wurde in vielen Unternehmen der Normalfall. Da haben wir mit unserer Kampagne den Finger in die Wunde gelegt. Wir wollen, dass der Equal-Pay-Grundsatz nach einer kurzen Einarbeitungszeit voll gilt und weder einzelvertraglich noch kollektivvertraglich davon abgewichen werden kann.
linksfraktion.de, 5. Juni 2009
„Der Kapitalismus hat einen Infarkt“
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