Streit um die Pflegefinanzierung offenbart Konzeptlosigkeit der Großen Koalition
2,13 Millionen Pflegebedürftige und ihre Angehörigen warten in Deutschland darauf, dass die Regierung ihr Versprechen aus dem Koalitionsvertrag einlöst und die Pflegeversicherung zukunftssicher macht. Weil die Vorstellungen der Parteien unterschiedlicher nicht sein könnten, läuft alles auf einen halbherzigen Finanzierungs-Deal hinaus.Privat interessieren diese Zahlen immer: Bis 2050 wird sich die Zahl der Pflegebedürftigen auf über vier Millionen Menschen verdoppeln, der größte Teil wird - wenn alles so bleibt wie bisher - zu Hause gepflegt, die andere Hälfte vor allem in Heimen oder von ambulanten Diensten. Werde ich dabei sein, sorgt sich der älter werdende Mensch. Schließlich sind die pflegerischen Mängel in vielen Altenheimen bekannt. Das Deutsche Institut für Menschenrechte bezeichnet sie als erhebliche »menschenrechtliche Defizite«. Die politische Kaste lässt sich durch die Probleme der pflegebedürftigen Menschen nicht aus der Ruhe bringen. Wenn sie von Pflege spricht, meint sie in erster Linie die Kosten.
Jahrelang war die offenen Wunde der Gesellschaft mit der paritätisch und solidarisch finanziertenPflegeversicherung gut abgedeckt, aber künftige finanzielle Defizite sind absehbar. Um dem entgegen- zuwirken, hatte die Regierung in ihrem Koalitionsvertrag einen Ausgleich zwischen privater und gesetzlicher Pflegekasse vorgesehen. Darauf müsse aus rechtlichen Gründen verzichtet werden, heißt es jetzt. Die Private Pflegeversicherung, in der nur halb so viele Bedürftige versichert sind wie in der Gesetzlichen, hat sich wie bei der Gesundheitsreform erfolgreich vor einem Solidaritätsbeitrag gedrückt, obgleich sie jährlich Pflegeüberschüsse von 1,5 Milliarden Euro erwirtschaftet.
Einer Debatte darüber, was die Pflegeversicherung eigentlich abdecken soll und wie sie strukturiert sein müsste, um den Ansprüchen einer älter werdenden Gesellschaft mit immer geringer werdender sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung gerecht zu werden, verweigert sich die Koalition. Die SPD versucht ihre Wähler glauben zu machen, dass sie an einer Art Bürgerpflegeversicherung festhält, der aber bereits bei der Gesundheitsreform der Garaus gemacht wurde. Um diese Laviererei koalitionskompatibel zu gestalten, hat die Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) eine zusätzliche »Riester-Pflege« in ihren Plan aufgenommen, hinter der sich vor allem die Belastung der Betroffenen verbirgt, und an der auch Verbraucherschutzminister Horst Seehofer (CSU) Gefallen findet. Bei der CDU und der CSU nennen sich ähnliche Vorschläge wahlweise individuelle Demografie-Reserve oder Kapitalstock. Wichtig dürfte bei allen Modellen sein, dass die Belastung der Arbeitgeber gering ausfällt, daher der zaghafte Vorstoß des CDU-Generalsekretärs Volker Kauder, die Beitragserhöhungen bei einem halben Prozentpunkt zu belassen. Gegenwärtig liegen sie in den meisten Bundesländern bei 1,7 Prozent. Der Paritätische Wohlfahrtsverband hält Beitragserhöhungen von einem halben Prozentpunkt für unangemessen: »Wir haben Zweifel, dass eine Beitragsanhebung zur Pflegeversicherung von 0,5 Prozentpunkten ausreichen wird«, sagte Hauptgeschäftsführer Ulrich Schneider. Direkte oder indirekte Beitragserhöhungen seien nur dann vertretbar, wenn dieser Weg helfe, eine bessere Pflege zu gewährleisten, betonte Dr. Bernd Niederland von der Volkssolidarität. Doch von einer kritischen Überprüfung der Pflegestrukturen, wie sie die Linkspartei, die Grünen, Sozial- und Pflegeverbände wollen, scheinen die Regierungsparteien weiter entfernt als je zuvor.
Von Silvia Ottow
Neues Deutschland, 13. Juni 2007