Sozialverband Volkssolidarität schlägt Alarm: Bald Millionen von Altersarmut betroffen
Immer mehr Menschen in Deutschland sind von Armut bedroht. In 15 Jahren könnten bereits rund vier Millionen Neurentner mit Altersarmut zu kämpfen haben, warnte der Sozialverband Volkssolidarität am Dienstag in Berlin.In den kommenden 20 Jahren werden rund 21 Millionen Deutsche der Jahrgänge 1942 bis 1961 in Rente gehen. Ein Viertel von ihnen wird ausschließlich von der gesetzlichen Rente leben müssen. In den neuen Ländern gilt das sogar für 30 Prozent. In Ostdeutschland könne es deshalb zu einem »ungeahnten Ausmaß der Altersarmut« kommen, wenn das Leistungsniveau der gesetzlichen Rente nicht wieder deutlich angehoben wird, sagte gestern der Präsident der Volkssolidarität, Gunnar Winkler, nach dem traditionellen Sozialpolitischen Fachgespräch des Verbands zum Thema »Armut in Deutschland«. Die öffentliche Debatte um die für 2008 angekündigte Rentenerhöhung von 1,1 Prozent sei deshalb schon angesichts der unerwartet hohen Inflationsrate von 3,3 Prozent im März »skurril«, betonte VS-Bundesgeschäftsführer Bernd Niederland.
Mit einem Zehn-Punkte-Katalog fordert der Verband parteiübergreifend Politiker dazu auf, der absehbar brisanten Entwicklung deutlich stärker entgegenzusteuern als bisher. Änderungen im Rentenrecht oder bei Rentenformeln würden hier nicht mehr ausreichen, so Sozialwissenschaftler Winkler. Umgesteuert werden müsse bei der Einkommens- und Arbeitsmarktpolitik. In den neuen Ländern haben laut VS 70 Prozent der heute 45- bis 65-Jährigen bereits acht Jahre Arbeitslosigkeit in ihrer Erwerbsbiografie, wodurch das Rentenniveau sinkt. Wohlfahrtsverbände und Gewerkschaften fordern deshalb, die mehrfachen Absenkungen bei den Beiträgen zur Arbeitslosen- und Rentenversicherung für Hartz-IV-Bezieher rückgängig zu machen. Sie hätten, so der Vorwurf, das Risiko der Altersarmut verschärft.
Die VS-Forderungen zielen, ähnlich wie jene vom Sozialverband Deutschland, darauf, das Rentenniveau verlässlich armutsfest zu machen. Der Riester-Faktor soll gestrichen, die Bezüge sollen wieder an die Lohndynamik gekoppelt werden. Außerdem müssten die Renten nicht nur vor nominaler Kürzung, sondern auch vor steigender Inflation geschützt werden.
Ein erhebliches Armutspotenzial tragen die 6,5 Millionen Beschäftigten im Niedriglohnsektor. In Ostdeutschland betrifft das laut VS 41 Prozent der Arbeitnehmer, im Westen etwa 22 Prozent. Diese Lohngruppen seien zudem im Zeitraum 2004 bis 2006 im Osten von 5,38 auf 4,86 Euro gesunken, im Westen von 7,22 auf 6,89 Euro. Als Sofortmaßnahme empfiehlt die Volkssolidarität, für diese Gruppen im Sozialgesetzbuch VI eine Mindestsicherung festzuschreiben. Zudem dürfe die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nicht länger an das ALG II gekoppelt werden. Sie gelte es stattdessen um 20 Prozent zu erhöhen. Die Kürzung der Invalidenrenten um knapp elf Prozent kritisiert die VS ebenso wie die Abschläge bei der Zwangsverrentung aus der Arbeitslosigkeit heraus.
Dass der Rückstand beim Rentenwert Ost auf Jahre nahezu unverändert bei rund zwölf Prozent liegen soll, sei ebenfalls unannehmbar, meinte Gunnar Winkler.
26 Prozent der in Deutschland lebenden Menschen definierte das Statistische Bundesamt bereits 2005 als armutsgefährdet. Die Betroffenen hatten somit weniger als 60 Prozent des »bedarfsgewichteten« Nettoäquivalenzeinkommens. Bedenke man, so Bernd Niederland, dass von 1980 bis 2006 die Schere bei der Steuerlast zwischen sozial Schwachen und Reichen extrem auseinandergegangen sei, müsse »endlich die Umverteilung des Volksvermögens von unten nach oben gestoppt werden«.
Von Michaela von der Heydt
Neues Deutschland, 2. April 2008