Die Europäische Nachbarschaftspolitik (ENP) ist ein seit 2004 bestehendes Programm der EU. Sie verfolgt offiziell das Ziel, einen „Ring stabiler, befreundeter Staaten“ um die EU zu schaffen. Im Rahmen der ENP sollen die Nachbarstaaten politisch und wirtschaftlich enger an die EU gebunden werden; gleichwohl wurde ihnen explizit keine Beitrittsperspektive zur EU angeboten.
Die ENP richtet sich einerseits an die Mittelmeeranrainer Marokko, Algerien, Tunesien, Libyen, Ägypten, Israel, die besetzten palästinensischen Gebiete, Jordanien, Libanon und Syrien sowie im Osten an die ehemaligen Sowjetrepubliken Ukraine, Belarus, Moldau, Armenien, Aserbaidschan und Georgien. Für die beiden Ländergruppen gibt es die Teilprogramme „Union für den Mittelmeerraum“ (UfM) und „Östliche Partnerschaft“ (ÖP), in deren Rahmen die EU ihre konkrete Zusammenarbeit mit den jeweiligen Ländern durchführt. Im aktuellen Mehrjährigen Finanzrahmen 2021–2027 fördert die EU zahlreiche Projekte und Teilprogramme der ENP über das „Instrument für Nachbarschaft, Entwicklungszusammenarbeit und internationale Zusammenarbeit“ (NDICI). Insgesamt stellt die EU im laufenden Haushaltszyklus EU-Mittel in Höhe von 19,3 Mrd. Euro bereit.
Viele der offiziell proklamierten Ziele der ENP, wie die Förderung von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, verantwortungsvoller Staatsführung und nachhaltiger Entwicklung, unterstützt auch DIE LINKE. Wir kritisieren jedoch den geopolitischen Charakter, den diese Programme in der Realität haben. Durch sie versucht die EU, vor allem wirtschafts-, sicherheits- und – mit Blick auf den Mittelmeerraum – migrationspolitische Interessen in den jeweiligen Ländern durchzusetzen. Die Umsetzung demokratischer und menschenrechtlicher Reformen wird diesen Interessen regelmäßig untergeordnet. Ebenso sehen wir kritisch, dass die bisher abgeschlossenen Assoziierungs-, Partnerschafts- und Freihandelsabkommen einseitig neoliberal geprägt sind und auf Marktöffnung sowie die Ausweitung des europäischen wirtschaftlichen Rechts- und Regelraums auf die betreffenden Staaten abzielen. Der Aufbau wirtschaftlich und sozial nachhaltiger lokaler Wirtschaftsstrukturen und die Umsetzung sozialer Reformen werden dadurch konterkariert.
Insbesondere die Bilanz der 2009 ins Leben gerufenen Östlichen Partnerschaft (ÖP) ist ernüchternd. Ihre prioritären Ziele sind die Förderung von „guter Regierungsführung“ (u. a. Kampf gegen Korruption), Demokratie und Rechtstaatlichkeit sowie der Menschenrechte. Zudem soll über die ÖP die sozioökonomische Entwicklung in den Staaten sowie die Sicherheitslage und die Beziehungen der Staaten untereinander gefördert werden. In den letzten Jahren wurden die Handlungsfelder zudem um Klimaschutz sowie zuletzt um Maßnahmen zur Überwindung der Folgen der COVID-19-Pandemie ausgeweitet. Dies wurde auf dem letzten Gipfeltreffen zwischen EU und ÖP-Staaten im Dezember 2021 erneut bekräftigt. Kritische Beobachter:innen monieren aber, dass die ÖP weit von der Umsetzung dieser Ziele entfernt ist.
Dies zeigt sich in aller Deutlichkeit beim Anspruch, Sicherheit und Frieden in der Region zu fördern: Die ÖP wurde infolge des Krieges zwischen Georgien und Russland 2008 maßgeblich darauf angelegt, die früheren ehemaligen Sowjetrepubliken aus dem Einflussbereich der Russischen Föderation zu lösen und über den Abschluss von Assoziierungs- und Freihandelsabkommen politisch und wirtschaftlich an die EU zu binden. Indem die EU die Staaten der ÖP zunächst vor eine Entscheidung zwischen der EU und Russland stellte, trug sie zur Verschärfung politischer Spannungen in der Region und innerhalb der Länder bei, insbesondere in der Ukraine. Diese konfrontative Politik wurde zwar in den Folgejahren korrigiert – so stellt das 2017 ausverhandelte und 2021 in Kraft getretene Abkommen mit Armenien (CEPA) die gleichzeitige Mitgliedschaft des Landes in der Eurasischen Wirtschaftsunion nicht in Frage.
Gleichwohl hat sich die EU bis heute nicht fähig gezeigt, in den Konflikten zwischen ÖP-Staaten und Russland (u.a. Ukraine, Georgien) sowie der ÖP-Staaten untereinander – wie im Krieg zwischen Aserbaidschan und Armenien 2020 – eine aktive vermittelnde Rolle zu spielen. Die Aushandlung des Waffenstillstands erfolgte wesentlich durch Russland, wohingegen die EU nicht als Vermittlerin in Erscheinung trat. In der EU-ÖP-Gipfelerklärung vom Dezember 2021 wird der Konflikt nur sehr verklausuliert angesprochen.
Auch in den anderen Politikfeldern klaffen Anspruch und Realität weit auseinander: Alle ÖP-Staaten sind durch demokratische und rechtsstaatliche Mängel gekennzeichnet; die Wirtschaftsentwicklung ist durch anhaltende Korruption (Oligarchisierung) und mangelhafte soziale Entwicklung charakterisiert. Unter anderem im Fall Aserbaidschans, dessen Öl- und Gasvorkommen im Interesse der EU liegen, wird über die seit Jahren unverändert schlechte Menschenrechtslage sowie eklatante Demokratiedefizite hinweggesehen. Anders stellt sich die Lage im Fall Weißrusslands dar: Infolge der anhaltenden Unterdrückung der Opposition und der Medien sowie der Einschränkung individueller Menschen- und Bürger*innenrechte durch die Regierung verhängte die EU Sanktionen gegen das Regime in Minsk. Dieses setzte daher seine Mitgliedschaft in der ÖP Ende Juni 2021 aus.
Innerhalb der ÖP-Staaten hat sich mit Georgien, Moldau und der Ukraine ein Trio herausgebildet, das wesentlich engere wirtschaftliche und politische Kooperationen mit der EU (u.a. über die umfassenden Freihandelsabkommen) unterhalten – und deren Regierungen seit Jahren auf einen EU-Beitritt drängen. Unter dem Eindruck des völkerrechtswidrigen Kriegs Russlands gegen die Ukraine haben die drei Staaten im Februar und März 2022 die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen gefordert. Unter den EU-Regierungen ist umstritten, wie die EU auf diese Anträge reagieren soll.
DIE LINKE. fordert eine Neuausrichtung der ÖP zu einer auf solidarischer Kooperation zu beiderseitigem Vorteil basierenden Politik. Hierzu gehört unter anderem die Neuverhandlung der Assoziierungs- und Freihandelsabkommen. Die nach wie vor marktradikale Ausrichtung der Freihandelsabkommen muss korrigiert und diese auf die Stärkung der sozialen Entwicklung in den ÖP-Ländern ausgerichtet werden. Stärker als bisher muss sich die EU dafür einsetzen, dass Reformversprechen für Demokratie und Rechtstaatlichkeit umgesetzt werden. Last but not least muss die EU eine aktive Rolle in der Konfliktvermittlung spielen und dabei insbesondere die OSZE stärken.