„Das Gedenken an die schätzungsweise 300.000 Opfer der nationalsozialistischen ‚Euthanasie‘-Morde sowie an die etwa 400.000 Opfer von Zwangssterilisationen ist überfällig. Der 25. Jahrestag des Bundestagsbeschlusses zur Errichtung des Denkmals für die ermordeten Juden Europas, in dem Deutschland 1999 die Selbstverpflichtung einging, ‚aller Opfer des Nationalsozialismus würdig zu gedenken‘, böte dafür auch eine gute Gelegenheit. Leider müssen wir aber zur klaren Einschätzung kommen, dass der Umgang der Koalition mit dem Thema dem nicht gerecht wird. Wir werden uns deshalb daran nicht beteiligen und auch nicht in der heutigen Debatte über den gemeinsamen Antrag der Koalitionsfraktionen mit der Union ‚Opfer von NS-‚Euthanasie‘ und Zwangssterilisation – Aufarbeitung intensivieren‘ das Wort ergreifen“, erklären Jan Korte (kulturpolitischer Sprecher) und Petra Pau (Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages) für die Gruppe Die Linke im Bundestag. Korte und Pau weiter:
„Die massenhafte Ermordung kranker und behinderter Menschen, insbesondere die sogenannte Vernichtung lebensunwerten Lebens, – bewusst verharmlosend als ‚Euthanasie‘ bezeichnet –, war Teil der nationalsozialistischen Rassenideologie. Wir begrüßen natürlich, dass die Koalition nun endlich ihr Versprechen aus dem Koalitionsvertrag einlösen und einen Parlamentsbeschluss zur Aufarbeitung der Verbrechen an den Opfern der NS-‚Euthanasie‘ und Zwangssterilisation herbeiführen will. Die Linke kämpft seit vielen Jahren dafür, dass den Opfern der aus politischen und volkswirtschaftlichen Gründen geplanten und vollendeten Ermordung während der NS-‚Euthanasie‘-Programme von 1939 bis 1945 in den fünf Mordzentren Deutschlands endlich ein würdiges und angemessenes Gedenken zu Teil wird. Wir fordern seit Jahren, dass dies auch Angehörige und Nachfahren einbezieht und die Opfergruppe angemessen im nationalen Gedenkstättenkonzept des Bundes berücksichtigt wird.
Dem ist aber mitnichten so. Die Linke wird ausgegrenzt und wurde erst gar nicht gefragt, ob sie einen interfraktionellen Antrag mittragen will. Wie üblich unterwerfen sich die Koalitionsfraktionen hörig dem schäbigen Totalitarismus-Spiel der Union. Und das, obwohl wir bereits im Juni 2022, also vor genau zwei Jahren, den umfangreichen Antrag ‚Opfer von NS-‚Euthanasie‘ und Zwangssterilisation als Verfolgte des Nationalsozialismus anerkennen – Aufarbeitung vorantreiben‘ (20/2049) eingebracht hatten. Ein Antrag übrigens, dessen acht Forderungspunkte von allen Sachverständigen in der entsprechenden Öffentlichen Anhörung des Kulturausschusses am 26. September 2022 gelobt wurde. Unsere anschließenden Versuche und Angebote zu einem interfraktionellen Antrag zu kommen, zugunsten dessen wir unseren Antrag zurückgezogen hätten, wurden allesamt abgelehnt. Und jetzt bekommen wir exakt zwei Tage vor der Debatte einen Antrag vorgelegt und sollen spätabends in zwei Minuten zu diesem wichtigen Thema reden?
Dieses unwürdige Spiel machen wir nicht mit. Auch, weil der jetzt vorliegende Antrag inhaltlich eine Zumutung ist und dem Thema nicht gerecht wird:
Der Antrag ist ganz offensichtlich ohne die Expertise der Opferverbände, regionalen Initiativen, betroffenen Familien und an der Erforschung der Verbrechen arbeitenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zusammengeklöppelt worden. Anders lässt sich nicht erklären, dass zwar ein Projekt zur bundesweiten Archivierung von Patientenakten und Personalunterlagen der Täter initiiert, aber kein generelles gesetzliches Kassationsverbot von historischen Quellen mit Bezug zu NS-Medizinverbrechen erlassen werden soll. Die drohende Vernichtung der Krankenakten muss aber so schnell wie möglich durch ein generelles Kassationsverbot verhindert werden! Warum soll, wenn ‚eine gesamteuropäische Betrachtungsweise‘ angeblich ‚von enormer Bedeutung‘ ist, keine internationale, sondern nur eine nationale Fachtagung durchgeführt werden? Wir finden es zudem problematisch, dass die möglichen Zuwendungsempfänger von Forschungsgeldern im Antrag gleich benannt werden. Und warum wird nicht verlangt, dass Angehörige und Nachfahren einbezogen und die Opfergruppen angemessen im nationalen Gedenkstättenkonzept des Bundes berücksichtigt werden müssen? Das Ganze wird noch dadurch getoppt, dass mit der Formulierung ‚im Rahmen der zur Verfügung stehenden Haushaltsmittel‘ die Erinnerungspolitik mit einem Handstreich unter Haushaltsvorbehalt gestellt wird. Damit schrumpft auch dieses geschichtspolitische Projekt der Ampel zu einem Schaufensterantrag.
Erst vor einigen Wochen wurden Anwohnende eines Wohnheims der Lebenshilfe in Mönchengladbach durch Steinwurf-Anschläge bedroht, mit der Botschaft ‚Euthanasie ist die Lösung‘. Gerade in Zeiten, in denen derartig behindertenfeindliche Angriffe wieder zunehmen, sollte ein Antrag zum Gedenken an die Opfer der NS-‚Euthanasie‘-Verbrechen zeigen, dass man die Thematik ernstnimmt und über parteipolitischen Querelen steht. Hier wird ein beschämendes Signal sowohl an die Opfergruppen als auch an die heutigen Betroffenen gesendet. Ein Erinnern an die Opfer und eine Anerkennung der Eltern und Verwandten, die unter hohen Mühen und großen Gefahren ihre Kinder und andere Verwandte versteckt haben, um ihr Leben zu schützen, sieht unseres Erachtens jedenfalls anders aus.“