Ein neues Jahrzehnt beginnt, und die politischen Herausforderungen sind so groß wie lange nicht. Die Koalition aus Union und SPD sollte nicht bis 2021 regieren, denn sie ist dabei, dieses neue Jahrzehnt zu verspielen. Viele Menschen haben verständlicherweise kein gutes Gefühl bei Neuwahlen. Mit der Regierung des kleinsten gemeinsamen Nenners kann es aber nicht weitergehen. Nur 26 Prozent der Menschen sehen in ihr noch eine Stärke des Landes.
Eine Koalition, die das Vertrauen der Wähler derart enttäuscht, muss enden. Bliebe sie regulär im Amt, könnte eine neue Regierung erst 2022 richtig die Arbeit aufnehmen. Das ist angesichts der gewaltigen Herausforderungen des neuen Jahrzehnts zu spät. Beide Koalitionspartner verharren in den Umfragen auf historischen Tiefstständen. Dieser Vertrauensverlust rüttelt an den Grundfesten der Demokratie. Die ehemals große Koalition sollte das Wort an die Wähler zurückgeben. Sie hatte nie wirklich einen Regierungsauftrag. Sie hat sich nicht bewährt. Wir brauchen Neuwahlen in diesem Jahr!
Die SPD hat auf ihrem Parteitag überwiegend gute Beschlüsse gefasst und sich zumindest in Teilen von der Schröder-Politik verabschiedet, die ihr und dem Land schadete. Diese Korrekturen wird sie bei einer Fortsetzung der Regierung mit der Union nicht ansatzweise durchsetzen können. Das wiederum untergräbt die Glaubwürdigkeit des Kurswechsels. Erst rhetorisch und dann inhaltlich nach links gerückt, aber weiterhin fest an die Union gekettet: ein unauflösbarer Widerspruch, der nach unten zieht. Die SPD muss den Menschen zeigen, dass sie ihre Neuausrichtung ernst meint. Der Beweis wären Rückgrat, Mut und ein Ausstieg aus der großen Koalition – auch mit dem Risiko, das zweifellos im Spiel wäre.
Von der Union erwarte ich diesen Mut nicht. Sie hat in der Koalition kaum eigene Vorhaben umgesetzt, jede Innovationskraft, jeden Elan verloren. Sie ist ermattet von der Macht. Die Konservativen stecken in einer tiefen Sinnkrise. Annegret Kramp-Karrenbauer hat keine Vision und kaum Orientierung. Die Union sollte in der Opposition ihren Kompass justieren und in der Opposition die Aufgabe annehmen, die Rechtspopulisten klein zu machen.
Für ein Mitte-links-Bündnis braucht es eine wiedererstarkende SPD. Deutschland braucht Mitte-links aber nicht irgendwann, sondern so schnell wie möglich – vor allem aus drei Gründen.
Erstens: Politik muss den Menschen in Zeiten von Globalisierung und Digitalisierung Sicherheit geben. Ja, es geht auch um mehr Personal bei Polizei und Justiz. An diesen Strukturen wurde jahrzehntelang auf Kosten der Sicherheit der Bürger und der Polizisten selbst gespart. Hier geht es auch um ein soziales Bürgerrecht, denn nur Reiche können sich einen schwachen Staat leisten.
Der Kern des Problems ist aber soziale Unsicherheit. Das Aufstiegs- und Sicherheitsversprechen der alten Bundesrepublik – „unseren Kindern wird es einmal besser gehen“ – gilt nicht mehr. Viele Menschen, auch diejenigen, denen es heute noch gut geht, sehen sich auf einer abschüssigen Rutschbahn mit wenig Verlässlichkeit und wenig Kontrolle über das eigene Leben. Allein die nächste Mieterhöhung kann alles ändern.
Durch den Strukturwandel in der Autoindustrie drohen ein gewaltiger Stellenabbau und volkswirtschaftliche Verwerfungen. Die Digitalisierung wird die Arbeitswelt grundlegend umkrempeln und fordert den Sozialstaat heraus. Viele schauen sorgenvoll in die Zukunft. Gleichzeitig will die Bundesregierung den Rüstungsetat verdoppeln und bis 2031 86 Milliarden Euro pro Jahr für Panzer und Kampfschiffe ausgeben. Das ist Steuergeldverbrennung und ein Kniefall vor Donald Trump.
Kein Land der Erde bedroht Deutschland, aber Angst und Unsicherheit durch falsche Politik gefährden unsere Zukunft. Eine Mitte-links-Regierung müsste dies verhindern und das Geld in eine Agenda 2025 für soziale Sicherheit investieren und somit einen Schutzschirm für die Menschen aufspannen. Im Zentrum stehen mehr Sicherheit auf dem Arbeitsmarkt, eine Kindergrundsicherung, die kein Kind chancenlos in Armut zurücklässt, ein Mietendeckel in den Ballungsgebieten sowie eine Renten- und Pflegereform, die alle Bürger in eine Kasse einbezieht, sodass Renten und Pflege im Alter gesichert werden. Die Aussicht auf eine Absicherung im Alter ist Grundbedingung für Vertrauen in die eigene Zukunft – eine generationenübergreifende Frage, die sich immer mehr junge Leute stellen.
Zweitens: Politik muss den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken. Das sagen alle, nur macht es kaum jemand und so läuft es seit Jahren in die falsche Richtung. Die Gesellschaft teilt sich zunehmend in Parallelwelten, wo man sich häufig immer weniger zu sagen hat oder digital übereinander herfällt. Stadt - Land wird zu einem Großkonflikt, weil Politik nicht das Verhindern von sogenannten abgehängten Regionen und abgehängten Menschen als Aufgabe begreift, die nie dagewesene Investitionen verlangt.
Das Land zerfällt, wenn nur noch die Zentren der Großstädte zählen. Reichtum ist obszön und leistungswidrig geworden. Die Politik der letzten drei Jahrzehnte hat einen Geldadel entstehen lassen, der in einer Parallelgesellschaft lebt, ohne den angemessenen Beitrag für die Allgemeinheit zu leisten. Gleichzeitig wird die Mitte geschröpft. Eine große Steuerreform hätte die Ambitionen der großen Koalitionen wecken müssen. Aber bei ihr ist selbst die Begrifflichkeit aus der Debatte verschwunden.
Bei Großerben gilt: Je mehr Vermögen, desto weniger Steuern. Von 481 Menschen, denen im vergangenen Jahr jeweils über zehn Millionen Euro geschenkt wurden, haben überhaupt nur 133 Menschen Steuern gezahlt. Dabei ging es um eine Summe von über 22 Milliarden Euro, auf die insgesamt nur ein Prozent Steuern gezahlt wurde. Gleichzeitig zahlen Facharbeiter den Spitzensteuersatz und immer mehr Rentner Steuern.
Eine Mitte-links-Regierung muss eine große Steuerreform in Angriff nehmen, die den Zusammenhalt stärkt, die große Mehrheit entlastet und in der Superreiche mehr beitragen müssen! Mitte-links kann durch eine gerechte Aufteilung der Steuerlast ein neues Wir-Gefühl in unserem Land erzeugen: Zusammenhalt durch Gerechtigkeit und Gerechtigkeit durch Zusammenhalt.
Drittens: Mit dem Klima- und Strukturwandel stehen wir vor einer der komplexesten Herausforderungen überhaupt. Ja, ich kann Leute verstehen, die fragen, was es bringen soll, bei uns CO2 zu reduzieren, wenn in Brasilien der Regenwald brennt. Andererseits bewegt die Klimapolitik zu Recht eine ganze Generation, die weiß, dass ein „Weiter so“ unsere Existenz gefährdet.
Das Klimathema droht die Gesellschaft zu spalten. Viele befürchten, dass es zu ihren Lasten geht. Wenn wir Klimapolitik so organisieren, dass es nur teurer wird, verlieren wir die Akzeptanz. Appelle, den Gürtel enger zu schnallen, werden bei Menschen, die schon beim letzten Gürtelloch sind, keine Unterstützung finden – auch wenn Hunderttausende auf der Straße sind. Mitte-links muss eine Klimapolitik machen, die das Leben verbessert: eine preiswerte und zuverlässige Bahn, Preisdeckel im Nahverkehr, sinkende Strompreise, Systemwechsel und klare Vorgaben für die Industrie und neue Technologien.
Statt Angst muss Zuversicht in die Debatte. Wir brauchen Zuversicht in Innovationen und Branchen, die die Potenziale heben, und keine Politik, die den Klimawandel zur Abrissbirne des Wohlstandes macht. Deutschland sollte auf diesem Feld das Land der Innovationen und des Fortschritts werden. Mit Mitte-links ist beides möglich: Klimaziele und ein besseres Leben. In allen anderen Konstellationen würde Politik entweder zulasten der einen oder der anderen Seite gemacht.
Sicherheit, Zusammenhalt, Klimaschutz: Das sind die politischen Schlagwörter des neuen Jahrzehnts. Die große Koalition fährt die Metaherausforderungen unserer Zeit an die Wand. Bei Chancen, Infrastruktur und sozialem Zusammenhalt sollten wir zum Vorreiter in Europa werden. Dafür braucht Deutschland eine gesellschaftliche und politische Mehrheit für Mitte-links.
Der Gastbeitrag erschien am 3. Januar 2020 in der Tageszeitung DIE WELT.